Christian Heidel verkörpert Mainz 05 wie kein anderer. Der 58-jährige Sportvorstand des Bundesligisten pendelt zwischen seiner Heimat und Mallorca. Die MZ traf den dreifachen Familienvater vor dem Bundesligaspiel gegen die Bayern am Samstag (11.12.) in seinem Haus in Santa Ponça, wo er mit Frau Stefanie, Tochter Sanita und Hund Manfred wohnt.

Angesichts der Corona-Lage in Deutschland genießen Sie wahrscheinlich jede Minute auf der Insel.

Die Spanier haben besser aus der Pandemie gelernt. In Spanien wird agiert, in Deutschland wird immer nur reagiert. Wir Deutschen waren auf die Entwicklung im Winter überhaupt nicht vorbereitet. Auf der Insel habe ich einfach ein besseres Gefühl. Zudem spielt sich das Leben dank des Wetters viel mehr draußen ab.

Was hat Sie dazu veranlasst, nach Mallorca auszuwandern?

Ausgewandert stimmt nur bedingt. Seit zehn Jahren komme ich mit meiner Familie schon in den Urlaub nach Mallorca. Da ich durch meinen Job die Hälfte meines Lebens in Hotels verbringe, beschloss ich, dass ich im Urlaub nicht auch noch im Hotel schlafen muss. Für unseren Urlaub 2010 in Costa de la Calma mietete ich daher eine Finca. Das gefiel uns gut. Wenn wir spielfreie Wochenenden hatten, kam ich mit der Familie immer wieder zu Kurzurlauben auf die Insel. Dadurch habe ich mir den Südwesten gut angeschaut und lieben gelernt. 2018 mieteten wir dann ein Haus in Port d’Andratx das ganze Jahr über. Nach meinem Abschied bei Schalke im Februar 2019 verbrachten wir dort viel Zeit, und ich pendelte oft zwischen Mainz und Mallorca. Im Sommer erlitt ich bei einem Kurzurlaub in der Türkei einen Schlaganfall und habe die Reha auf Mallorca gemacht. Zum Glück habe ich keinerlei Nachwirkungen und bin topfit.

Wie sind Sie dann in Santa Ponça gelandet?

Als unsere Tochter eingeschult werden musste, waren wir am Überlegen, wie es weitergehen soll: Gehen wir nach Deutschland zurück? Bleiben wir auf Mallorca? Steige ich beruflich wieder ein? Ich habe letztlich den Job in Mainz angenommen, obwohl ich das so nie geplant hatte. Meine Frau Stefanie und die jüngste Tochter Sanita wohnen fest auf der Insel, ich pendle zwischen Santa Ponça und unserer Wohnung in Mainz. Andratx haben wir nur verlassen, weil so der Weg zur Schule nach Portals Nous kürzer ist. Ich bin zwei, drei Mal im Monat hier, immer wenn es zeitlich passt. Von Haustür zu Haustür brauche ich nur knapp drei Stunden.

Sanita spricht durch die Schule fließend Spanisch und Englisch. Mittlerweile ist Mallorca ihre Heimat. Sie will hier auch nicht mehr weg. Das kann ich sehr gut verstehen. Meiner Frau und mir geht es genauso.

Wie steht es um Ihre Spanischkenntnisse?

Ich wollte die Sprache unbedingt lernen und habe eine Lehrerin für die Familie eingestellt. Durch meinen Schlaganfall habe ich das Projekt leider aufgeschoben. Ich komme gut klar, verstehe viel besser, als ich spreche, und lese viel Zeitung. Sanita spricht durch die Schule fließend Spanisch und Englisch. Mittlerweile ist Mallorca ihre Heimat. Sie will hier auch nicht mehr weg. Das kann ich sehr gut verstehen. Meiner Frau und mir geht es genauso.

Lieber Real Mallorca oder Atlético Baleares?

Ich habe viel Sympathie für Underdogs und die tragischen Aufstiegskämpfe von Atlético verfolgt, war aber noch nicht im Stadion. Bis zur Pandemie war ich bei fast jedem Spiel von Real Mallorca. Mit Präsident Andy Kohlberg habe ich mich mehrfach getroffen und ausgetauscht. Dadurch habe ich eine bessere Bindung zum Club. Jetzt kommt Andratx groß auf. Ich habe dort viele Freunde und versuche, zum Pokalspiel gegen Sevilla zu gehen.

Welche Rolle spielte der Schlaganfall bei der Entscheidung, wieder ins Berufsleben zurückzukehren?

Es war kein typischer Schlaganfall. Ich hatte Herzrhythmusstörungen. Das ist eine Volkskrankheit, und ich habe sie unterschätzt. Ich war körperlich topfit, und trotzdem hat es mich erwischt. Mit dem Job hat das gar nichts zu tun. Vom Amateurfußball sind wir im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte nach oben gekommen und spielen mit zwei Jahren Unterbrechung seit 18 Jahren in der Bundesliga. Das war in Gefahr, und dann habe ich mich überreden lassen zurückzukehren.

Solange der Verein und ich es wollen, arbeiten wir zusammen. Will eine der beiden Seiten nicht mehr, freue ich mich riesig auf Mallorca.

Ihre Worte damals: „Ich bin nicht der Messias“. Sie haben es dennoch geschafft, den Verein aus schier aussichtsloser Lage zu retten.

Als meine Rückkehr noch nicht feststand, titelte eine große deutsche Tageszeitung „Mainz 05 wartet auf den Messias“. Das wollte ich geraderücken. Ich würde mich doch selber nicht als Messias bezeichnen. Eine Geschichte wie unsere in diesem Jahr gab es noch nie im europäischen Fußball. Das war sehr außergewöhnlich und wird es so wohl kaum noch einmal geben. Wir haben an den richtigen Schrauben gedreht, die richtigen Entscheidungen getroffen und auch Glück gehabt. Mainz 05 ist wieder Mainz 05 und auf einem guten Weg.

Die Fans bezeichnen Sie ehrfurchtsvoll als „Don“, den großen Boss. Der Verein hat Ihnen einen Vertrag ohne Laufzeit gegeben. Solche Vertrauensbeweise sind selten im schnelllebigen Fußballgeschäft.

Das Wort „Vertrauen“ beschreibt es am besten. Ich kam vor fast 30 Jahren zu diesem Club, da brauche ich kein Stück Papier mit irgendwelchen Fristen. Mainz ist meine Geburtsstadt und meine Heimat. Mainz 05 ist mein Verein. Solange der Verein und ich es wollen, arbeiten wir zusammen. Will eine der beiden Seiten nicht mehr, freue ich mich riesig auf Mallorca.

Das Problem auf Schalke: Es ist dort sehr schwierig, mit sportlichen Schwierigkeiten umzugehen. Der mediale Druck ist immens.

Bereuen Sie Ihren Wechsel zu Schalke 04 im Nachhinein?

Überhaupt nicht. Ich wollte einmal etwas anderes erleben. Ich hatte dort eine tolle Zeit, aber werde leider hier und da in Zusammenhang mit dem späteren Abstieg des Clubs gebracht. Dabei habe ich mich schon im Februar 2019 für einen Rücktritt entschieden. Nur ein paar Monate zuvor wurden wir mit acht Punkten Vorsprung vor Borussia Dortmund deutscher Vizemeister. Wir standen im Halbfinale des DFB-Pokals und sind durch die Gruppenphase der Champions League spaziert. Wir hatten den höchsten Umsatz, den höchsten Gewinn und die höchste Mitgliederzahl aller Zeiten. Der Verein war auf einem sehr guten Weg, aber wir hatten keine gute Vorrunde in der nächsten Bundesligasaison. Das Problem auf Schalke: Es ist dort sehr schwierig, mit sportlichen Schwierigkeiten umzugehen. Der mediale Druck ist immens. Die Entlassung von Trainer Domenico Tedesco wäre für mich ausgeschlossen gewesen. Er ist ein Toptrainer. Daher habe ich diesen Schritt gewählt und bin gegangen. Ein Jahr später war Schalke wieder auf einem Champions-League-Platz, und erst dann begann der Niedergang, der in diesem Jahr leider bis zum Abstieg führte. Da war ich schon zweieinhalb Jahre weg und mehrere Trainer und Verantwortliche nach mir im Amt.

Mainz konnten Sie retten. Nun steht der Club auf dem siebten Platz. Ist es zu früh, um vom internationalen Wettbewerb zu träumen?

Träume helfen ja nicht. Wir wissen genau, wo wir herkommen. Wenn in Mainz alles funktioniert und jedes Rädchen ineinandergreift, dann kann man eine Sensation schaffen. Das ist uns bislang zwei Mal mit dem Einzug in die Europa League gelungen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber nicht so groß. In Mainz ist niemand enttäuscht, wenn es am Ende der elfte oder zwölfte Tabellenplatz wird. Unser Ziel ist es, uns in der Bundesliga zu halten und die Menschen für den Club zu begeistern.

Ich glaube nicht, dass wir der Lieblingsgegner der Bayern sind.

Jetzt geht es gegen die Bayern.

Ich spreche ungern vom leichtesten Spiel des Jahres, denn das würde bedeuten, dass wir von einer Niederlage ausgehen. In der vergangenen Saison haben wir sie hochverdient geschlagen. Wir werden alles versuchen dort nicht leer auszugehen. Ich glaube nicht, dass wir der Lieblingsgegner der Bayern sind.

Angreifer Jonathan Burkardt spielt eine fantastische Saison. Ist das der Stürmer, der der Nationalmannschaft seit dem Abschied von Miro Klose gefehlt hat?

Dieses Thema ist aufgekommen, weil Nationaltrainer Hansi Flick öfter bei uns im Stadion ist. Es gefällt ihm einfach gut bei uns, und er hat keine weite Anreise. Wir wollen dem Jungen jetzt keinen Rucksack aufbinden. Wenn er weiter so trifft und spielt, wird die Einladung irgendwann kommen.

Wir haben den jungen Trainern einiges zugetraut und – das Wichtigste – nicht versucht, sie zu verbiegen.

Sie gelten als der Entdecker von Jürgen Klopp und Thomas Tuchel. Welchen Anteil haben Sie an deren Erfolgen?

Beide wären auch ohne mich erfolgreiche Trainer geworden. Es wäre aber vielleicht nicht so schnell gegangen. Wir haben beide in jungen Jahren aus dem Nichts auf den Trainerstuhl in der Bundesliga gesetzt. Klopp war am Samstag noch Spieler, und am Montag darauf habe ich ihn zum Trainer befördert. Die ganze Republik hat gelacht, weil er keinen Trainerschein hatte. Den Mut hätten vielleicht nicht viele Leute gehabt. Wäre es gescheitert, hätte man uns wohl aus der Stadt gejagt. Tuchel war Trainer unserer A-Junioren. Wir haben damals nach dem Aufstieg Trainer Jørn Andersen fünf Tage vor dem ersten Bundesligaspiel durch Thomas ersetzt. Der Aufschrei war noch viel größer als bei Klopp. Da konnte ich zwei, drei Wochen lang keine Zeitung lesen. Klopp und Tuchel sind sehr außergewöhnlich und mit Pep Guardiola die besten Trainer der Welt.

Ist Ihr jetziger Trainer Bo Svensson der nächste, der eine derartige Karriere einschlägt?

Das weiß ich nicht, aber es kann sein. Es kommen noch mehr Trainer aus unserer Schmiede, die heute erfolgreich sind: Marco Rose, Martin Schmidt oder Sandro Schwarz. Wir haben den jungen Trainern einiges zugetraut und – das Wichtigste – nicht versucht, sie zu verbiegen. Tuchel und Klopp durften Fehler machen und ihren eigenen Stil finden. Da steckt keine Handschrift von Heidel dahinter. Ich habe schnell erkannt, dass sie mir im Fußballsachverstand haushoch überlegen sind. Warum soll ich denen dann erklären, was sie machen sollen? Rückschläge sind dabei einkalkuliert. Bo lassen wir jetzt den gleichen Weg gehen.

Laut der Politik haben die Fußballer wegen ihrer Vorbildfunktion die Verpflichtung, sich impfen zu lassen. Ich habe selten so einen Schwachsinn gehört.

Am vergangenen Wochenende kam es wegen der Corona-Lage wieder zu Geisterspielen. Droht dem Fußball der nächste Stillstand?

Ich hoffe nicht. Ich bemerke immer eine gewissen Unsicherheit bei den Fans im Stadion. Einige kommen nicht, obwohl sie ein Ticket gekauft haben. Ich glaube aber, dass die Vereine die Lage im Griff haben. Es ist eine perfide Diskussion ausgebrochen, ob Fußballspieler geimpft sein müssen. Die ist völlig unangebracht. Bei Mainz haben wir mittlerweile eine Impfquote von 100 Prozent. Laut der Politik haben die Fußballer wegen ihrer Vorbildfunktion die Verpflichtung, sich impfen zu lassen. Ich habe selten so einen Schwachsinn gehört. Ich weiß nicht, warum ein Fußballer ein anderer Mensch sein soll als beispielsweise ein Verkäufer oder Busfahrer. Das höhere Einkommen an eine Impfpflicht zu koppeln, ist hanebüchen. Es wurde versucht, von den Versäumnissen der Politiker abzulenken. Dabei bin ich ein Verfechter der Impfpflicht, damit die Pandemie endlich ein Ende findet – aber die Impfpflicht sollte für alle gleich gelten.

Haben Sie Ihren Spielern den Pikser vorgeschrieben?

Das können wir nicht, da es aktuell keine juristische Grundlage für eine Impfpflicht gibt. Der Club hat entschieden, künftig keine ungeimpften Spieler mehr zu verpflichten. Das ziehen wir auch durch. Es gibt in Deutschland aber kaum noch ungeimpfte Spieler.

Der Fußball sorgt dafür, dass Fans massenhaft in Stadien und Kneipen strömen. Ist es zu verantworten, dass weiter Spiele ausgetragen werden?

Wir hatten in Mainz in dieser Saison nicht einen einzigen Corona-Fall durch einen Stadion-Besuch. Wir stehen eng mit den Gesundheitsbehörden im Kontakt und fragen nach den Spielen nach, ob es einen erkrankten Zuschauer gab, ob es im Stadion zur Ansteckung kam und ob wir bei der Nachverfolgung der Ansteckungskette helfen sollen. Dazu kam es nie. Das Hygienekonzept funktioniert.