Ins Flugzeug steigen und die Sonne auf Mallorca unter Palmen genießen. Heute ist das für Matthias Zimmerling kein Problem. Vor 34 Jahren hätte der Fußballer wohl alles dafür gegeben, wenn er hätte in den Süden fliegen dürfen. Der damals 21-Jährige erzielte am 26. Oktober 1988 beim Uefa-Cup-Hinspiel von Lokomotive Leipzig gegen Diego Maradona und den SSC Neapel ein Tor. Die Partie endete 1:1. Beim Rückspiel in Italien fehlte der Stürmer. Er war weder verletzt noch gesperrt. Die Stasi vermutete, dass Zimmerling aus der DDR flüchten wollte und verbot ihm zuerst die Ausreise und ein Jahr später das Fußballspielen.

Der Leipziger, der dieser Tage auf Mallorca urlaubt, hatte bei BSG Chemie Leipzig das Kicken gelernt. Mit 13 Jahren wechselte er zum Stadtrivalen Lokomotive Leipzig. Beide Vereine stehen sich so nah wie der FC Schalke und Borussia Dortmund. „Ich wurde zu Lok delegiert, so hieß das damals“, sagt Zimmerling. „Weder die Vereine noch ich hatten dabei etwas zu sagen. Das hat die Partei bestimmt.“

Der heute 54-Jährige war noch nie ein Kind von Traurigkeit. „Ich hatte ein Näschen für Frauen und bin nach den Spielen auch gerne mal in die Disco gegangen“, sagt er der MZ. In den Augen der Stasi machte ihn das suspekt. Sie ließ Zimmerling – der nicht in die Partei eintrat und auch sonst seine Meinung gern offen kundtat – seit seinem 18. Lebensjahr mit neun Inoffiziellen Mitarbeitern beschatten. „Meine Akte haben sie ‚Talent‘ getauft. Sie umfasste am Ende 400 Seiten persönlicher Informationen von mir“, sagt der Fußballer der MZ. „Meine Eltern haben mich gewarnt, dass mich auf der Straße ein Auto verfolgt. Ich wollte das nicht wahrhaben, war naiv und habe normal weitergelebt. Im Endeffekt hätte ich niemanden vertrauen können.“

"Republikflucht" mit Hilfe von Berti Vogts?

Im Oktober 1987 spitzte sich die Lage das erste Mal zu. Zimmerling flog mit der DDR-Nationalmannschaft zur Junioren-WM nach Chile und gewann Bronze. Dort lernte er den damaligen U21-Nationaltrainer Berti Vogts und den BRD-Teamarzt Dr. van Alste kennen. Sie unterhielten sich lange, der Fußballer und der Mediziner freundeten sich an. „Wir haben Briefe geschrieben, die alle abgefangen wurden, und uns einmal in einem Hotel in Berlin getroffen.“ Die Stasi vermutete, dass Zimmerling mit dem „Wessi“ die Republikflucht plante. „Dabei war das völliger Unfug. Ich hatte nie vor, Leipzig zu verlassen“, sagt Zimmerling.

Der Fußballer schaffte den Sprung in die erste Mannschaft von Lok Leipzig. Unter dem früheren Namen VfB Leipzig war der Club 1903 der erste deutsche Fußballmeister und auch in den 80er-Jahren ein Spitzenclub. Schon in der ersten Runde im Uefa Cup 1988 gegen den FC Aarau traf Zimmerling doppelt. Gegen Neapel bildete er mit dem späteren Bundesligastar Olaf Marschall eine Doppelspitze.

Matthias Zimmerling (li.) und Diego Maradona im Hinspiel. | FOTO: PRIVAT

100.000 Zuschauer im Zentralstadion

Dann das Spiel gegen den SSC Neapel im Leipziger Zentralstadion. „Es ist etwas traurig, dass meine Karriere im Prinzip auf ein Spiel reduziert wird. Aber es war natürlich ein unvergesslicher Moment“, sagt Zimmerling. Offiziell kamen 80.100 Zuschauer. „Aber selbst die Treppen waren voll. Es waren in Wahrheit sicherlich mehr als 100.000 Leute“, sagt Zimmerling. Das im Jahr 2000 abgerissene und durch die heutigen Red Bull Arena ersetzte Leipziger Zentralstadion war das größte Stadion Deutschlands.

„15 Minuten vor Anpfiff betrat Diego unter tosendem Applaus den Rasen. Seine Schuhe waren offen und wie für ihn üblich jonglierte er zum Aufwärmen nur ein bisschen mit dem Ball“, erinnert sich Zimmerling. Die Spieler von Lok Leipzig mussten sich hingegen in den Katakomben warmmachen. Zwischen den Italienern und den Ostdeutschen sollte es aus Sicht der DDR-Führung so wenig Kontakt wie möglich geben.

Maradona, damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere, ging angeschlagen ins Spiel und blieb für seine Verhältnisse blass. Auch der DDR-Stürmer klagte über Rückenschmerzen. „Die Ärzte haben mir damals eine Pille gegeben, von der ich keine Ahnung hatte, was die enthielt“, sagt Zimmerling. Der 21-Jährige konnte durch das Mittel unbeschwert spielen und köpfte sein Team in der zweiten Halbzeit in Führung. „Eigentlich sollte ich bei nächster Gelegenheit ausgewechselt werden. Durch das Tor habe ich mich gerettet.“ Für Neapel schoss Francini wenig später den Ausgleich.

In die Kabine zu Maradona geschlichen

Auch der Trikottausch war den DDR-Spielern untersagt. „Das Geld war knapp. Ärgerlich für mich war, dass angeblich Maradona mit mir tauschen wollte. Ich habe ein Interview geführt und bin danach in die Gästekabine geschlichen. Dort habe ich dann doch heimlich mit einem Ersatzspieler getauscht“, sagt Zimmerling.

Zwei Wochen später fehlte der 21-Jährige in der Aufstellung. Die DDR-Führung hatte dem Trainer eine Liste mit dem Reisekader ausgehändigt, Zimmerlings Name stand nicht darauf, Erklärungen gab es keine. Den italienischen Journalisten, die wissen wollten, wo der Torschütze vom Hinspiel ist, wurde gesagt, er sei verletzt. „In Wahrheit habe ich zu Hause gesessen und geheult“, sagt Zimmerling. Sein Team verlor gegen den späteren Uefa-Cup-Sieger mit 0:2 und schied aus.

Zum vorläufigen Karriere-Aus kam es dann im April 1989. Zimmerling wurde unterstellt, dass er vor einem Spiel die ganze Nacht in der Disco verbracht hatte. „Ich war an dem Abend zwar dort, aber um 19 Uhr zu Hause“, sagt er. Der 21-Jährige flog nicht nur aus dem Verein, die DDR verbot ihm auch komplett den Fußball. „Wäre nicht wenig später die Mauer gefallen, hätte ich nie wieder spielen dürfen“, sagt Zimmerling. Der Ausreiseantrag, den er stellte, brauchte nicht mehr bearbeitet zu werden.

Chance bei Hannover 96

„Ein Jahr lang habe ich mich fit gehalten. Nach so langer Zeit ohne Spielpraxis nimmt dich in der Regel kein Verein mehr“, sagt Zimmerling. Mithilfe des befreundeten Arztes bekam der Angreifer eine Chance bei Hannover 96. Immer wieder wechselte er im Anschluss den Verein. Selten blieb er länger als eine Saison.

„Sicherlich hätte ich mehr aus meinem Talent machen können. Dafür hätte ich aber auch Trainer gebraucht, die mir Vertrauen schenken. Zudem hatte ich Probleme, diese ganze Geschichte zu verarbeiten“, sagt er. In die erste Liga oder in den internationalen Wettbewerb schafft er es nicht mehr. Das sportliche Highlight nach der Wende für ihn war das DFB-Pokalfinale 1997, das er sensationell mit dem Drittligisten Energie Cottbus erreichte und gegen den VfB Stuttgart verlor.

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Im Anschluss zog es den Deutschen 20 Jahre nach Österreich, wo er eine neue Heimat fand. Nach der aktiven Karriere ist Zimmerling als Trainer tätig. Zuletzt trainierte er den 1. FC Merseburg in der fünften Liga. Nun sucht er einen neuen Verein und genießt unterdessen den Urlaub auf Mallorca.