Das Kalb ist eine Stunde vor unserer Ankunft geboren. Auf dem Weg zur Herdenunterkunft berichtet Marie-Luise Eicke, dass die Mutterkuh bisher keinerlei Interesse an ihrem Nachwuchs zeigt. Sie leckte es nach der Geburt nicht ab, es war die Züchterin, die das feuchte Fell mit Stroh abrieb. Das leicht zitternde Kalb schaut mit großen Augen, aber offenbar furchtlos in die Welt. „Für sein Alter sieht es schon ganz gesund aus", sagt Marie-Luise Eicke. Der Mutter habe man ein homöopathisches Medikament gegeben, sie fresse sich nach der Geburt erst einmal satt. Das Neugeborene könne in etwa einer Stunde aufstehen, dann seien die Gelenke bereit. Danach benötige das Kalb das Colostrum, die Vormilch aus dem Euter der Mutter. Zeige diese sich weiterhin so abweisend, werde man sie melken und dem Neugeborenen die Flasche geben.

Unterdessen nähern sich Schwestern und Tanten des Kalbes, beschnuppern das neue Herdenmitglied und stupsen die Besucher mit ihren Nasen an. Nur Vater Julian, der Stier, hält Abstand, er zeigt weder am Nachwuchs noch an den Gästen Interesse.

Motor der Landwirtschaft

Die aus Norddeutschland stammende Marie-Luise Eicke lebt seit 25 Jahren mit ihren Kühen in der Nähe von Llubí. Sie ist im Besitz des Biosiegels vom Inselrat Mallorcas. Die roten menorquinischen Rinder liefern Milch und Fleisch. Aber nicht nur das. Für die Bio-Landwirtin sind sie der Motor der biodynamischen Landwirtschaft. Denn mit den Nährstoffen ihrer Ausscheidungen verbessern sie die Böden wesentlich. Kuhfladen, von der „Zeit" kürzlich als Oase der Artenvielfalt bezeichnet, sind Zufluchtstätten vieler Insekten. Sie bereiten die Böden für blühende Wiesen und saftige Kräuter vor, also der idealen Biokost für Rinder.

Dass die Herde bei dieser Ernährung gesunde Milch und bestes Fleisch liefert, ist für die Züchterin eher nebensächlich. Für sie ist die Hauptaufgabe der Kühe, die Böden in Schwung zu halten. Denn Inselfelder, die nicht bearbeitet werden, trocknen in den Sommermonaten aus und verlieren dadurch an Qualität. Der Idealzustand wären für Eicke kleine Bauernhöfe mit ein oder zwei Kühen, die Dung für die Gemüsebeete und die Äcker liefern könnten. Milch bester Qualität wäre ein Beitrag zur guten Ernährung, und wenn ein Jungtier geschlachtet werden muss, käme auch immer mal wieder Fleisch auf den Tisch. Zusätzlich können Ochsen zum schonenden Pflügen auf dem Feld eingesetzt werden.

Jungmännerverein

Ein gutes Stück von der Kuhherde entfernt leben Jungstiere, die bisher noch nicht kastriert worden sind. „Sind keine Kühe in der Nähe, verhalten sie sich sehr friedlich", sagt Eicke. Nach der Kastration sollen sie als Ochsen zu Arbeitstieren ausgebildet werden, obwohl deren marmoriertes Fleisch bei Gourmets hoch im Kurs steht. Männliche Tiere seien gute Arbeitstiere, sie wollten dem Menschen in einem fort zeigen, was für tolle Kerle sie sind, und befolgten deswegen, was man von ihnen verlangt, sagt Eicke. Eine Kuh dagegen langweile sich schnell, sei viel mehr am Fressen und an der Aufzucht der Kälber interessiert.

Wer mit Tieren pflügt, richte weniger Schaden auf den Äckern an als mit tonnenschweren Treckern, sagt Eicke. „Die industrielle Landwirtschaft bringt nicht nur Gift auf die Felder, ihre schweren Fahrzeuge ruinieren auch die Erdkrume", sagt Eicke.

Kleine Herden

Große Herden sind für Eicke ein Frevel. Vor allem dann, wenn für sie Wald gerodet werden muss. Soja- und anderes Kraftfutter fördert den Methan-Ausstoß, der schädlicher als der des CO2 ist. „Die Kühe brauchen kein Soja, daraus sollte man besser Tofu herstellen", sagt die Züchterin. Eine Kuh wäre mit ihrem riesigen Verdauungsapparat in der Lage, aus minderwertigem Futter, wie zum Beispiel Stroh, im Zusammenspiel mit Bakterien hochwirksamen Dünger zu produzieren. Richtiges Füttern erkenne man am Fladen, der fest und wie eine Ensaimada strukturiert sein muss.

Mittlerweile kommen immer mehr Rinder in die Nähe der Besucher, sie haben ihre Scheu gänzlich verloren und mögen es, wenn ihr weiches, gelocktes Fell gestreichelt wird. Erst fressen die Kühe ein wenig Stroh, dann halten sie inne und geben sich dem rhythmischen Wiederkäuen hin. Oder sie schließen die Augen und genießen die morgendliche Sonne.

Die Herde hier darf immer nur so groß werden, dass die Züchterin die Tiere bemuttern und sich mit Leichtigkeit die Namen aller Herdenmitglieder merken kann. Zwölf Muttertiere zählen zum Stamm der Herde, hinzu kommt der Stier und der Nachwuchs, sodass die Zahl zwischen 26 und 28 schwankt.

Plädoyer für die Hörner

Die Landwirtin begann ihre Zucht vor vielen Jahren mit sieben Exemplaren der menorquinischen roten Rinderrasse. Alle hatten Hörner. Für die Stallhaltung hat man den Tieren diese mittlerweile vielerorts weggezüchtet. Dabei sind sie wichtig: Hörner wirken wie ein erweitertetes Riechorgan, sorgen im Sommer für Wärmeaustausch und sind für Herdentiere unverzichtbar. Die Bullen können sich mit den Hörnern schieben, wenn sie um die Rolle des Stärkeren kämpfen. Und vor einer alten Kuh mit langen Hörnern haben alle anderen Respekt.

Milch für die Kälber

Stier Julian sorgt dafür, dass die Kühe einmal im Jahr trächtig werden. Nach der Geburt bleiben die Kälber bei ihren Müttern, die jedoch zusätzlich gemolken werden müssen. Denn die Kuh produziert vier Mal so viel Milch, wie das Kalb vertragen kann. Für Eicke ist Milch eine Gabe der Liebe, die jedoch durch die Massentierhaltung und industrielle Milchherstellung als Naturprodukt auf der Strecke bleibt. „Hochleistungskühe sind Gerüste für Euter", sagt die Landwirtin. Diese Tiere warteten bloß darauf, dass sie die Milch in ihren riesigen Eutern loswerden. Europaweit werden sie meist im Alter von fünf Jahren geschlachtet. Auf dem Hof bei Llubí werden die Tiere gut und gern 19 Jahre alt.

Traumatische Momente

Weil die Kühe jedes Jahr ein Kalb zur Welt bringen, ist es nicht zu umgehen, dass immer wieder ein Tier geschlachtet werden muss. Für das Rind ist es der traumatischste Moment, wenn es von der Herde getrennt wird. Deshalb setzt sich die Biolandwirtin für Weidentötung ein. „Wahrscheinlich muss ich dafür eine Unterschriftenaktion organisieren", meint sie. Vielleicht könnte man so die Inselbehörden überzeugen, die sehr wenig Ahnung von der Praxis auf den Höfen haben. In Deutschland gäbe es Vorbilder für gut funktionierende Weidenschlachtung. Noch ist es für Marie-Luise Eicke ein schwerer Gang, wenn sie mit ihrem Kollegen Georg Bräutigam die Tiere in die Schlachthöfe bringen muss.

Das Bio-Rindfleisch wird an einen kleinen, privaten Kreis von Bekannten und Freunden verkauft, die wissen und schätzen, wie die Tiere groß geworden sind. Da immer wieder einer von ihnen zum Vegetarier oder Veganer wird, sind neue Käufer willkommen. Seit Kurzem gibt es eine Stiftung, die auch zu dem Zweck gegründet worden ist, eine solidarische Landwirtschaft nach dem US-amerikanischen Vorbild der Community-Supported-Agriculture-Projekte zu ermöglichen.

Das Neugeborene ist übrigens - das teilte Eicke telefonisch mit - wenig später doch noch aufgestanden und begann mit viel Unterstützung dann doch am mütterlichen Euter zu trinken.

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