Es gibt Neues von der nacra, wie sie auf Spanisch genannt wird: Die stark gefährdete Edle Steckmuschel (Pinna nobilis), Europas größte Muschel, fällt nach dem Befall durch einen Parasiten seit Herbst 2016 einem Massensterben zum Opfer. Die wenigen Überlebenden haben nun offenbar Gefallen an einem Verwandten gefunden und sich mit der Rauen Schinkenmuschel (Pinna rudis) gekreuzt.

Forscher des Centre Ocenogràfic de Balears (IEO) auf Mallorca haben diese überraschende Entdeckung im Januar in der Fachzeitschrift „Molecular Biology Reports" publiziert. Maite Vázquez, Meeresbiologin am IEO, erklärt im MZ-Gespräch, wie es zu dem Fund kam: „Im Mittelmeer haben wir noch einige Exemplare von Pinna nobilis entdeckt, die resistent gegenüber dem Erreger sind, weil sie die Krankheit überstanden haben und nicht daran gestorben sind. Wir haben also ein paar dieser Individuen genauer untersucht und dabei festgestellt, dass es darunter drei Hybride gab."

Eine genetische Analyse brachte Klarheit

Die reinen Arten ließen sich recht gut unterscheiden: Die im Mittelmeer endemische Pinna nobilis hat eine relativ glatte Schale mit zahlreichen, aber kleinen Stacheln, während Pinna rudis auf ihren zwei Schalenklappen viel weniger und wesentlich dickere Stacheln besitzt. Auch bildet sie eine Art von Rippen, die die ganze Oberfläche durchfurchen und ihr ein gewelltes Aussehen verleihen. Einige der resistenten Muscheln, die die Wissenschaftler aufspürten, hätten schon äußerlich einige seltsame Charakteristika aufgewiesen, die auf eine Mischform hindeuteten. Doch erst eine genetische Analyse brachte schließlich Klarheit.

Für Vázquez ist die Entdeckung ein zweischneidiges Schwert: „Auf der einen Seite ist das eine etwas entmutigende Nachricht. Denn wir haben weniger überlebende Pinna nobilis, als wir dachten", sagt sie. „Aber die gute Seite ist, dass wir auf diese Weise mehr Spuren bekommen, um das Thema der Resistenz zu erforschen." Die Raue Schinkenmuschel unterscheidet sich nämlich nicht nur optisch von der Edlen Steckmuschel, sie wird im Gegensatz zu dieser auch vom Parasiten Haplosporiudium pinnae verschont. Er befällt die Verdauungsdrüse und zerstört das Gewebe, sodass die Muschel verhungert.

Eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied innerhalb der Steckmuschel-Familie ist, dass die Pinna rudis - auf Spanisch nacra de roca, weil sie statt Seegraswiesen eher geröllhaltige Sedimente als Habitat bevorzugt - ein größeres Verbreitungsgebiet hat: Sie kommt auch im Atlantik und bis in die Karibik vor, wo sie im Laufe der Evolution eine Resistenz gegen den Erreger entwickelt haben könnte, so die Hypothese. Diese ­Veranlagung gibt sie offenbar an die Hybride weiter. „Zuerst müssen wir herausfinden, ob die Resistenz genetisch veranlagt ist, worauf alles hindeutet", erklärt ­Vázquez. „Wenn wir dann entschlüsseln, welcher Teil des Genoms dafür verantwortlich ist, können wir diese Erkenntnisse gezielt für die Zucht einsetzen."

Die letzten gesunden Populationen

Die Arterhaltung erfordert eine ganze Reihe an koordinierten Maßnahmen, und es ist die Nachzucht, in der die große Hoffnung für das Überleben der Edlen Steckmuschel liegt. Das Fundament dafür bilden vor allem Muscheln aus einigen punktuellen Zufluchtsstätten, wo immer noch zwischen einigen Hundert und einigen Tausend Exemplaren leben - Wissenschaftler sind noch dabei, zu ermitteln, wie hoch der gesamte Bestand ist.

Dazu gehören das Ebro-Delta, die Salzwasserlagune Mar Menor in der Region Murcia sowie weitere Lagunen an den Küsten von Frankreich, Italien und Griechenland. Die Theorie lautet, dass der Salzgehalt, der anders ist als im Mittelmeer, die Muscheln vor dem Erreger bewahrt. „Sowohl ein sehr hoher als auch ein sehr niedriger Salzgehalt erweist sich offenbar als Schutzschild gegenüber dem Parasiten. Dieser kann die dort lebenden Populationen nicht befallen", so Vázquez.

Verwundbare Muscheln

Paradiese für Muscheln sind diese Gebiete allerdings auch nicht: Die nacras leben dort laut der Meeresbiologin in sehr flachen Gewässern und sind deshalb äußerst verwundbar in Bezug auf alle Beeinträchtigungen, die durch den Klimawandel: Unwetter, Stürme und anderen Naturphänomene. Das Ziel der Forscher ist daher, diese letzten durchweg gesunden ­Populationen zu verstärken - wenn es denn gelingt, ein funktionierendes Zuchtprogramm zu entwickeln. ­Verschiedene Forschergruppen arbeiten daran, unter anderem in einem Labor der Universidad Católica de Valencia, im Aquarium der Universidad de Murcia und in der Forschungseinrichtung IRTA im Ebro-Delta.

Bislang ist es den Forschern trotz aller Bemühungen nur gelungen, Steckmuscheln bis zum Larvenstadium zu vermehren. „Eine Spezies in Gefangenschaft zu züchten, ist immer schwierig, weil alle Parameter perfekt ­aufeinander abgestimmt sein müssen -die Wassertemperatur, der Salzgehalt und das Wichtigste: die optimale Ernährung", gibt Vázquez zu Bedenken. „Das klingt so einfach, aber in Wirklichkeit ist es das nicht."

Denn obwohl es eine geschützte Art sei, fehle es immer noch an Grundlagenwissen. Larven müssten in der künstlichen Umgebung eines Aquariums erst einen idealen Ort finden, wo sie sich niederlassen und zu Muscheln ent­wickeln. „Diese Phase ist eine Herausforderung, weil wir die Mechanismen nicht kennen, welche die Metamorphose zu kleinen nacras beeinflussen", so Vázquez.

Gen-Checks für nacras

Die Entdeckung der Hybride hat in jedem Fall eine direkte Konsequenz für den Artenschutz der Edlen Steckmuschel: Die vermeintlich resistenten Exemplare, die die Forscher im Mittelmeer entdeckten, müssen nun alle einen Gen-Check durchlaufen, bevor sie für die Zucht infrage kommen. „Es ist sehr wichtig für künftige Aktionen, dass wir ganz sicher wissen, woran wir sind", sagt die Meeresbiologin. „Wenn Hybridexemplare in ein Zuchtprogramm gelangen, sind diese vielleicht nicht einmal fruchtbar. Und wir vermehren dadurch nicht das genetische Material der Spezies, die wir eigentlich erhalten wollen, nämlich die Pinna nobilis."

Dass sich die Hybridmuscheln in großem Stil ausbreiten werden und zumindest dafür sorgen, dass eine andere Riesenmuschel das Mittelmeer besiedelt, hält Vázquez für recht unwahrscheinlich. Denn selbst wenn sie sich als fortpflanzungsfähig erweisen sollten, gebe es insgesamt zu wenige von ihnen. Für eine anhaltende Entwicklung der Population müssten beide Ausgangsspezies - Pinna rudis und Pinna nobilis - gleichwertig nebeneinander existieren. Doch Letztere sei eben extrem selten geworden.

Das Rettungsprogramm sieht nun vor, alle Bestände von lebenden nacras maximal zu schützen - ob resistent oder nicht, die Lebenserwartung der wenigen resistenten Exemplare zu erhöhen und so viele weitere wie möglich aufzuspüren. Dazu ist die Hilfe der Bevölkerung wichtig: Vázquez appelliert an Hobbytaucher, die meinen, eine nacra zu sehen, ihre Beobachtung auf der Website observadoresdelmar.es zu melden. Zudem soll intensiv am Zuchtprogramm gearbeitet werden, auch verstärkt mit anderen Ländern im Mittelmeerraum. Die Edlen Steckmuscheln mit einer Impfung vor dem Parasiten zu schützen wie uns Menschen vor dem Coronavirus, sei übrigens keine Option, so Vázquez: „Das Immunsystem eines Weichtiers ist dafür viel zu primitiv."