Lorenzo Roig packt das Schaf kräftig am Hinterlauf, das Tier verliert das Gleichgewicht und wird mit Schwung auf den Stallboden gelegt. Das Schaf leistet keinen Widerstand. Roig kann ihm mühelos die Vorder- und Hinterläufe mit einem Plastikband zusammenbinden. Ein leises Schnurren verrät, dass die Schermaschine in Betrieb ist. Die 13 Zacken der Messer schwingen hin und her. Im Stall herrscht Hitze, es riecht streng nach Tier und Mist. „Wir sind ziemlich spät dran mit der Schafschur", sagt Roig. Sein Anwesen Son Buscai in Porreres liegt dicht an der Gemeindegrenze von Sant Joan. 200 Tiere zählt seine Schafherde. Bevor die größte Sommerhitze kommt, müssen sie geschoren sein. Den Schafen ist es unter ihrer dicken Wolle zu heiß.

Für die Schur lassen die meisten Inselbauern professionelle Scherer kommen. Der 64-jährige Roig macht das selber. Roig schert jetzt jeden Tag, wenn er Zeit hat, ein paar Tiere. Die Schur beginnt am Fellansatz am Bauch, der bei Schafen völlig nackt ist. Roig führt die Schermaschine sorgfältig vom Schwanz in Richtung Hals. Das Fell lässt sich mühelos vom Rücken trennen. Zwischendurch wird die Schermaschine ins Wasser getaucht. „Das ist eine Nassrasur", sagt er. Etwa 300 Kilogramm Wolle werden dieses Jahr bei seiner Schur zusammenkommen.

Jedem Schaf wachsen pro Jahr ungefähr eineinhalb Kilogramm Wolle auf dem Buckel. Geschoren wird nicht nur, damit die Vierbeiner kühler durch den Sommer kommen, ihre Wolle ist nach langer Zeit der Flaute auf dem Wollmarkt wieder gefragt. „Wir können dieses Jahr pro Kilogramm 48 Cent anstatt 18 an die Bauern bezahlen", sagt Joan Jaume. Der 52-Jährige leitet in Llucmajor einen Wollgroßhandel. Er ist der einzige Abnehmer auf Mallorca. Die Bauern beliefern den Händler direkt oder über die örtlichen Kooperativen.

Im Mai, Juni und Juli stapeln sich dann riesige Wollberge im Lager in Llucmajor, auch hier riecht es streng. Zwei Arbeiter sortieren die Ware nach den Farben Weiß, Braun, Schwarz, aber auch nach Qualität. „Wenn ein Tier krank war, vor allem wenn es Fieber hatte, wirkt sich das auf den Haarwuchs aus, die Wolle verfilzt", sagt Jaume. Auch Phasen mit wenig Futter sind zu erkennen. Nur bei bester Ernährung und gutem Futter wächst der Schopf so, dass er sich gut verspinnen lässt.

Im internationalen Vergleich rangiere die Qualität der Inselwolle eher im hinteren Bereich, erklärt Jaume. Schafrassen, die im Mittelmeerraum leben, können wegen des milden Klimas im Winter kein langes Haarkleid wie ihre Artgenossen in Australien, Südafrika, Südamerika oder Nordeuropa entwickeln. Zudem hat man in der Vergangenheit auf der Insel bevorzugt Schafe als Fleischlieferanten gezüchtet. Weil deren Wolle zum Spinnen nicht taugte, füllte man sie in Matratzen. Als diese aus der Mode kamen, verbrannte man die Wolle.

Doch gibt es auf der Insel auch heimische Langhaar-Schafrassen, deren Haltung von der Balearen-Regierung subventioniert wird und deren Körperbedeckung durchaus etwas taugt. Wie zum Beweis hält Joan Jaume eine Handvoll Wolle in der Hand und zeigt, wie sich die Haare – fast wie von selbst – zu einem Faden drehen. „Die Inselwolle ist reich an Lanolin", sagt der Wollgroßhändler. Dieses natürliche Fett im Fell sorge dafür, dass Regenwasser nicht an die Tierhaut dringt. Es mache aber auch die Fäden für das Spinnen geschmeidig.

Doch bis dahin muss das Schafshaar noch einen langen Weg zurücklegen. In der Halle von Llucmajor presst man die sortierte Wolle in Ballen und verlädt sie in Container. Rund 300 Tonnen Inselwolle werden dieses Jahr voraussichtlich nach Barcelona verschifft und von dort aus ins katalanische Sabadell geliefert, eine Stadt mit großer Tradition in der Wollverarbeitung. Dort wird sie gewaschen, gekämmt und versteigert. „Die Nachfrage auf dem Weltmarkt ist groß", sagt Jaume. Australien hat seine Wollproduktion in den vergangenen Jahren halbiert. Der wachsende Markt für Outdoor-Kleidung fordert große Mengen robuster Wolle. Dafür ist das Haar der Inselschafe bestens geeignet. „In Sabadell rechnet man mit Aufkäufen aus China", sagt Jaume.

Von alledem ahnt das Schaf auf dem Stallboden von Porreres nichts. Es verdreht nur die Augen, als Roig es auf die andere Seite dreht und dort weiterschert. Zum Schluss löst er die Schleife an Vorder- und Hinterbeinen. Völlig verdutzt steht das Tier auf. Nackt sieht es aus und ein wenig verstört. Aber nur einen Augenblick, dann rennt es, so schnell es kann, zur übrigen Herde im Stall.

In der Printausgabe vom 23. Juni (Nummer 581) lesen Sie außerdem:

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