José Manuel Igual nimmt den in der Bevölkerung verbreiteten abschätzigen Ausdruck „Ratte der Lüfte" (rata del cielo) nicht in den Mund. Nicht für die Möwen auf Mallorca, seine Möwen. Und schon gar nicht für die am häufigsten vorkommende Mittelmeermöwe (Larus michahellis), auf Spanisch gaviota patiamarilla. Ihm sei schon klar, dass die Tiere bei vielen Menschen keinen guten Ruf genießen, räumt der Biologe und Verantwortliche einer Langzeitstudie des Meeresforschungsinstituts Imedea in Esporles ein. „Aber sie haben eben auch viel schlechte Presse bekommen, unter anderem weil sie geschützte Tierarten wie die Küken der Sturmschwalbe fressen. Sie sind nun mal ein wenig aufdringlich und haben keinerlei Scheu, wenn es um Nahrungssuche geht." Und der Schein trügt: Es gibt gar nicht so viele Möwen auf Mallorca. Laut José Manuel Igual geht man derzeit von 20.000 bis 25.000 Exemplaren aus.

Aber wie das eben oft so ist mit Tieren, die landläufig eher als Plage denn als schützenswert eingestuft werden: Man weiß relativ wenig über sie. Igual ist daher mit seinem Kollegen Giacomo Tavecchia, ebenfalls Biologe, sowie dem Biologen Toni Muñoz von der Umweltschutzorganisation Gob 2007 angetreten, um diese Informationslücken zu schließen.

Ein Schock für die Möwen

Vor allem drehte sich vieles um die Frage, wo und wie sich die Tiere auf Mallorca Nahrung beschaffen. Dieses Thema gewann an Brisanz, als 2010 die ­Müllverbrennungsanlage Son Reus ihre Deponie auflöste und die Abfälle stattdessen verbrennen musste. Zuvor hatte ein Großteil der Möwen der Insel ihr Futter auf dem Müllberg gefunden. „Man wusste ja ein paar Jahre vorher davon, dass die Deponie verschwinden sollte. Wir haben uns gefragt, inwiefern die Möwen dann ihr Verhalten verändern und wo sie Nahrung suchen", erklärt Igual. So starteten Igual und Tavecchia ihre Beobachtungen drei Jahre vor der Schließung. Sie zählten die Tiere, statteten einige von ihnen mit kleinen roten Ringen an den Beinen aus und warteten ab - bis Ende 2010. Das Ende der Mülldeponie sorgte für helle Aufregung unter den Möwen. „Für sie war das ein großer Schock, sie wurden nervös." Die Tiere verstanden aber schnell, dass es in Son Reus nichts mehr zu holen gab und schwärmten in alle Richtungen aus.

Ibiza, Baskenland, Portugal

Das Interessante: Die Möwen verhielten sich dabei sehr unterschiedlich. Igual und Tavecchia hatten bis zum Tag der Schließung der Müllkippe rund 200 Möwen kleine rote Ringe verpasst. So waren sie zwar auf Meldungen von Vogelbeobachtern sowie ihre eigenen Sichtungen angewiesen, konnten ihnen aber mehr oder weniger folgen auf ihrem Weg der Nahrungssuche. „Manche Exemplare machten sich in Palma auf die Suche nach Hausmüll, andere versuchten ihr Glück damit, Fischerbooten zu folgen. Wieder andere verfolgten beide Strategien, und andere wiederum flogen Hunderte von Kilometern, um Futter zu suchen", berichtet Igual. So wurde ein Tier am Mercat de l'Olivar fotografiert, auf dem Meer berichteten Fischer davon, dass sie eines der markierten Tiere gesehen hätten, wie es um ihr Boot kreiste.

Eine andere Möwe flog beispielsweise zum Fressen regelmäßig nach Ibiza, wo es noch eine Müllkippe gibt, und kehrte dann wieder nach Mallorca zurück. „Für die Tiere ist das keine große Entfernung. Sie sind in zwei, drei Stunden dort." Dennoch waren die Wissenschaftler sehr überrascht von den Strecken, die Möwen zurücklegten. „Wir hatten angenommen, dass sie sich in einem viel kleineren Radius um die Insel bewegen." Manche von den Biologen beringte Möwe tauchte sogar an der spanischen Nordküste im Baskenland auf. „Bei dem Fischreichtum dort sicherlich keine schlechte Wahl", sagt Igual.

Acht Sender funktionieren einwandfrei

Und die Biologen forschen weiter. Was die genauen Routen der Tiere angeht, ist ihnen mittlerweile ein Durchbruch gelungen. Sie passten in der Schule Son Oliva in Palma die Möwen ab, die auf die Essensreste der Schüler nach den Pausen aus waren, und klemmten ihnen kleine Sender unter die Federn. Diese 15 Gramm schweren, solarbetriebenen Plättchen, die die Forschungsgruppe über einen Bekannten zu einem Freundschaftspreis von 450 Euro beziehen konnte, übermitteln seitdem über GPS ständig den Aufenthaltsort der Möwen. Neben den Tieren vom Schulhof verteilten die Biologen die Sender auch an Möwen, die auf Dragonera brüteten. Am Anfang gab es Probleme mit den Geräten. „Vor allem im vergangenen Jahr streikten viele, sodass wir erst in diesem Jahr so richtig beginnen konnten."

Inzwischen funktionieren acht der Sender einwandfrei und ermöglichen Igual und Tavecchia seitdem, Karten mit den Flugrouten zu erstellen. „Wir wussten zwar schon vorher, dass die Inselmöwen teilweise bis ins Baskenland fliegen, aber wir kannten ihren genauen Weg nicht", sagt Igual. Jetzt steht fest: Die Tiere treffen etwa auf Höhe von Barcelona auf das spanische Festland, überqueren dann das teils etwas unwirtliche Ebro-Tal, bevor sie über eine Bergkette in Navarra ins Baskenland einschweben.

Fotogalerie: Möwen auf Mallorca und ihre Routen

Dabei kamen manche Möwen auch noch deutlich weiter. Igual berichtet von einem Tier, das bis nach Galicien und den Norden von Portugal flog. Ein anderes kam an der französischen Atlantikküste bis auf die Höhe von Bordeaux, und ein drittes Tier flog bis an die Côte d'Azur und Toulouse. Wiederum ein anderes verschlug es in die Region Murcia. „Wir wissen sogar von Möwen, die bis nach Großbritannien geflogen sind." Zum Brüten kommen die mallorquinischen Tiere nach bisherigen Erkenntnissen ausnahmslos wieder zurück in balearische Gefilde. Vor allem auf Dragonera bilden sich im Frühjahr ganze Kolonien von Mittelmeer­möwen-Pärchen, neben der Korallenmöwe die einzige der auf Mallorca vorkommenden elf Arten, die auch hier brütet.

Kein Müll = weniger und kleinere Möwen

Erkenntnisse gewannen Igual und sein Team auch über die Art der Ernährung. Dazu schnitten sie mehreren Tieren ein Stück einer Feder heraus, die sie analysierten. Die Analyse ergab, dass Möwen sehr anpassungsfähig sind, was Nahrung angeht. „Waren es zu Zeiten von Son Reus vor allem menschliche Essensreste oder Müll, sind es inzwischen mehr Meeresfrüchte, Fische, aber auch Insekten oder Oliven", sagt Igual. In den Tourismusgebieten fänden die Möwen auch weiterhin Essensreste aus Restaurants oder Supermärkten.

Das Verschwinden der Mülldeponie in Son Reus hatte Folgen für die Möwenpopulation auf der Insel. „Ziemlich schnell merkten wir, dass die Zahl der Möwen auf Mallorca abnahm. Unter anderem hatte das damit zu tun, dass die Tiere nun statt der vorher üblichen drei Eier oft nur noch zwei Eier legten", erklärt Igual. Es gab also weniger Nachwuchs - und die jungen Möwen entwickelten sich lange nicht mehr so gut wie zu Zeiten der Müllkippe. „Sie waren etwa zehn Prozent kleiner als zuvor - und körperlich in deutlich schlechterem Zustand."

Die Zahl der Tiere habe sich von zuvor knapp 40.000 schätzungsweise halbiert und klettert seitdem Jahr für Jahr langsam wieder nach oben. „Wir gehen davon aus, dass es durch die Müllkippe in Son Reus eine Überbevölkerung von Möwen auf Mallorca gab. Aber wir können noch nicht genau sagen, welche Zahl für Mallorca natürlich ist." Doch das könne man ja in den nächsten Jahren noch erforschen.