Die sechs Zentimeter kleine Wasserschildkröte schwimmt in einem Plastikkorb und versucht sich mit unkoordinierten Flossenschlägen auf eine darin angebrachte Ablage zu hieven. ­Debora Morrison bewegt die Ablage mit ihrer Hand ein paar Zentimeter und hilft der wenigen Wochen alten Unechten Karettschildkröte (Caretta caretta) damit auf die Flossen. „Die Jungtiere sollen sich auf den Ablagen ausruhen können, wenn sie müde vom vielen Treiben und Auf- und Abtauchen sind", sagt die Mitarbeiterin der Pflegestation für Meerestiere des Palma Aquarium auf Mallorca. Insgesamt neun kleine Schildkröten der vom Aussterben bedrohten Art, deren ausgewachsene Exemplare über 100 Kilo schwer und knapp einen Meter lang werden können, versorgt Morrison mit ihrem Team derzeit - für die Britin eine Premiere.

Wohl zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte im Juli eine Unechte Karettschildkröte (tortuga boba, span.) an einem Balearen-Strand ihre Eier abgelegt - ausgerechnet an der von Diskotheken gesäumten Platja d'en Bossa auf Ibiza. Um die Eier zu schützen, hatte die Naturschutzbehörde den Fund zunächst an einen gesicherten Strandabschnitt im Naturpark Ses Salines auf Ibiza verlegt. Nach einigen stürmischen Tagen und einem Wetterumschwung sank die Temperatur des Sandes dort in kurzer Zeit so stark ab, dass die Pfleger des Naturparks und des Rehabilitationszentrums für Meerestiere (Crem) die Eier im September in einen Brutkasten legten. Dort wurden sie rund um die Uhr überwacht.

Rund zwei Monaten nach der Eiablage schlüpften dort 37 Schildkröten. 19 wurden auf die Pflegestation des Meeresforschungs­instituts in Valencia gebracht, jeweils neun ins Palma Aquarium und ins Meeresforschungslabor Limia in Andratx. „Wir haben noch keinerlei Erfahrung mit Baby-Meeresschildkröten. Damit nicht alle sterben, falls Probleme auftreten - etwa durch den Befall durch einen Parasiten - wurden sie bewusst in verschiedenen Zentren untergebracht", sagt Elena Pastor, Biologin im Limia, in dem aus unbekannten Gründen schon eines der Tiere gestorben ist.

Neben der erfolgreichen Eiablage kam es Ende Juli noch zu einer weiteren. Eine zweite Schildkröte hatte an der Platja des Cavallet auf Ibiza 102 Eier abgelegt. Leider stellten die Experten schon wenig später fest, dass die Eier nicht befruchtet waren.

In kühlere Gewässer

Während sich die Spezies der Unechten Karettschildkröte im östlichen Mittelmeerraum, etwa Griechenland, Zypern oder der Türkei, schon seit einigen Jahren erfolgreich fortpflanzt, werden im westlichen Mittelmeerraum erst seit 2014 Eiablagen beobachtet - etwa in Valencia, Alicante, Barcelona oder an Stränden in Andalusien. Verantwortlich dafür, so die Wissenschaftler, könnte die Erwärmung des Meeres infolge des Klimawandels sein. 20 Prozent der in den Balearen-Gewässern ­vorkommenden Schildkröten stammen aus dem östlichen Mittelmeerraum. Die übrigen 80 Prozent haben sich mithilfe der Meeresströmungen von Mexiko oder Kuba durch den ­Atlantik bis ins Mittelmeer treiben lassen. Normalerweise kehren befruchtete Weibchen stets an den Strand zurück, an dem sie selbst geschlüpft sind. „Dass die Tiere dafür nun die Strände hierzulande mit kühleren klimatischen Bedingungen aufsuchen, ist daher sehr bedenklich", so Morrison.

Männchen oder Weibchen?

Nicht nur die Temperatur des Wassers, auch die des Sandes spielt bei der Fortpflanzung der Spezies eine Rolle. „Liegen Eier in 29 Grad warmem Sand, sind die Chancen, dass es männ­lichen und weiblichen Nachwuchs gibt, gleich hoch. Wird diese Temperatur überschritten, kommen eher Weibchen zur Welt", erklärt ­Debora Morrison. Einige Studien, die zeigen, dass die Population der Weibchen in den herkömmlichen Brutgebieten deutlich über der der Männchen liegt (teilweise bei 90 Prozent), gebe es schon. Ob die Baby-Schildkröten, die gerade auf Mallorca zu Kräften kommen sollen, männlich oder weiblich sind, ist noch unklar. „Die Bestimmung des Geschlechts ist schwierig und erst im Erwachsenenalter möglich", so ­Debora Morrison. Die Männchen hätten dann längere Krallen, die sie für den Fortpflanzungsakt brauchen, und einen längeren Schwanz.

Noch unterscheiden sich die Baby-Schildkröten lediglich durch die weiße Nummer, die die Biologen auf ihre noch fast gänzlich schwarzen Panzer gemalt haben. Spezielle Wärmelampen simulieren über dem Tank die Sonne. Dreimal pro Tag bekommen die ­Kleinen einen Brei aus Hecht, Tintenfisch, Krabben, Miesmuscheln, Sardinen und Blaualgen. Mittwochs und freitags gibt es Lachs mit Vitaminen sowie zwei Milliliter Öl. Einmal pro Woche wiegen und messen die Mitarbeiter die Tiere. „An ihrem ersten Tag wogen die meisten rund 15 Gramm, mittlerweile bringen sie es auf rund 28 Gramm", stellt ­Debora Morrison fest.

Bis zu zwei Jahren Starthilfe

Rund ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre ­werden die Schildkröten auf den Pflegestationen bleiben. Mit einem Gewicht von ein bis zwei Kilogramm und den entwickelten Tauch- und Schwimmfähigkeiten sollten sie dann deutlich höhere Überlebenschancen haben als in freier Wildbahn geschlüpfte und dann an der Oberfläche treibende Jungtiere, die eine leichte Beute für Möwen und andere ­Vögel sind. Doch erst einmal gilt auch für die Winzlinge auf Mallorca und in Valencia nur eines: Kraft tanken.

Kampagne Anida:

Seit 2016 macht die Stiftung des Palma Aquarium mit der Kampagne Anida auf die Schildkröten ­aufmerksam. Wer am Strand ein Tier oder dessen Spuren im Sand entdeckt, sollte sofort die 112 ­kontaktieren, das Tier nicht berühren oder mit Blitz fotografieren. https://www.fundacionpalmaaquarium.org/que-hacemos/proyectos-anida/