Mallorca Zeitung

Mallorca Zeitung

Mit Plus-Size im Bikini: So kämpfen Frauen auf Mallorca gegen Bodyshaming

Manche Frauen verkneifen sich seit Jahren ein Bad im Meer, weil sie sich zu dick fühlen. Betroffene schildern ihre Schamgefühle

Andrea Holthaus ist zufrieden mit sich. Nele Bendgens

Alle Jahre wieder, wenn die Temperaturen im Frühsommer über 25 Grad Celsius stiegen und dünne Models auf Werbeplakaten die neuesten Bikinitrends präsentierten, begann für Elena Trigo eine Leidenszeit. Sie lief an Schaufenstern mit luftigen Kleidern vorbei, in die sie nicht hineinpasste und träumte davon, mit ihren schlanken Freundinnen im Meer zu baden. Wegen ihres Gewichts verzichtete sie darauf. Während der Flitterwochen im Jahr 2021 machte ihr Mann ein Foto von ihr an einem einsamen Strand. Elena Trigo veröffentlichte es auf Instagram mit dem Kommentar „Dein Körper, deine Regeln“ und bekam mehr als tausend „Likes“. Seitdem setzt sich die 31-Jährige für die mentale Gesundheit von üppigen Frauen ein.

Eingezwängt in ein Korsett

Als Andrea Holthaus ein kleines Mädchen war, zwängte ihre Mutter sie jeden Morgen in eine Miederhose. „Das ging los, als ich acht Jahre alt war und blieb so, bis ich 14 war“, sagt sie. „Wenn unsere Klasse Volleyball spielte, wählten mich meine Mitschüler als Letzte in eins der Teams. Keiner wollte mich in seiner Mannschaft haben. Beim Fußball oder Handball musste ich ins Tor. Manche haben richtig draufgeballert, weil ich es angeblich ausgefüllt habe“, erzählt sie – und man fühlt den Kummer, den sie damals gehabt haben muss, auch wenn Andrea Holthaus sagt, dass sie mittlerweile „drübersteht“, wenn sie fiese Kommentare über ihre Figur hört. Auch sie weiß, wie es sich anfühlt, auf schöne Dinge zu verzichten: auf Sex oder Strandbesuche.

Die Spanierin Elena Trigo traute sich lange nicht im Bikini an den Strand. DM

Beleidigungen sind die Regel

Als die Lebensberaterin 2022 eine berufliche Veranstaltung auf Facebook ankündigte mit dem Titel „Dicke Frauen lieben anders“ wurde sie von Hasskommentaren überflutet. „Menschen sprachen mir mein berufliches Können ab und behaupteten, ich sei mit meinen überflüssigen Pfunden doch selbst nicht gesund, darum könne ich anderen nicht helfen.“ Dabei arbeitete Andrea Holthaus schon vor ihrer Auswanderung nach Mallorca im Jahr 2021 als Trauma- und Familientherapeutin, unter anderem in Bielefeld.

Menschen mit mehr Gewicht werden mit Vorurteilen konfrontiert. Schon 2012 ergab eine Studie der Universität Tübingen, dass Firmenverantwortliche ihnen fast nie einen Beruf mit hohem Prestige zutrauen. Frauen sind von dieser Benachteiligung fünfmal stärker betroffen als Männer.

Der Feind in der eigenen Haut

Nun ist es eine schlimme Sache, wegen eines körperlichen Makels im Job diskriminiert zu werden. Eine andere, vielleicht noch tragischere ist, dass sehr viele Frauen sich 24 Stunden am Tag nicht wohl in ihrer Haut fühlen und mit einem negativen Selbstbild leben. Hört jemand oft, dass er zu dick oder nicht hübsch sei, verinnerlicht er das irgendwann und zweifelt an sich. Bodyshaming nennt sich das. Die Folgen sind ernst, sie reichen von depressiven Verstimmungen bis zu suizidalen Tendenzen. Psychologen wissen zudem, dass Scham auch Areale im Gehirn aktiviert, die körperliche Schmerzen verursachen.

Wer sich schämt, versteckt sich

Emotionen sind kulturell bedingt, das zeigt die deutsche Historikerin Ute Frevert, die am Max-Planck-Institut den Bereich „Geschichte der Gefühle“ innerhalb des Bereichs Bildungsforschung leitet. Das Wort „Scham“ stammt von der alten germanischen Wurzel „skam“ ab und meint „Schamgefühl, Beschämung, Schande“. Es geht auf die indogermanische Wurzel „kam“ zurück, die mit „zudecken, verschleiern oder verbergen“ übersetzt werden kann. Die Herkunft des Wortes macht deutlich, wie eng das Gefühl der Scham mit der Vorstellung des Sichverbergens verbunden ist. Wer sich schämt, möchte sich verhüllen, verstecken, dem Blick anderer entziehen, in einem Loch im Erdboden versinken. Wir fürchten, dass andere Selbstanteile sehen, für die wir uns schämen. Dem urteilenden Beobachter kommt bei diesem Gefühl eine große Bedeutung zu.

Ratschläge sind wie Ohrfeigen

„Iss doch einfach weniger“, sagten Freundinnen zu Heike Steinke, die seit 2021 auf Mallorca lebt. Die Ratschläge fühlten sich so demütigend an wie Ohrfeigen. Die 64-Jährige hat, was man früher „weibliche Problemzonen“ nannte: kräftigere Oberschenkel und Cellulite. „Als Mädchen habe ich im Schwimmbad eine Frau gesehen, die schlimme Dellen am Po hatte. Damals bin ich erschrocken und hab gedacht: die Arme!“ Mit 32 Jahren bekam sie dann selbst diese „Dellen“. Seither trägt sie fast immer lange Kleider.

Cellulite haben viele Frauen, nach Angaben der Techniker Krankenkasse sogar 98 Prozent. Grund sind genetisch bedingte Fettläppchen in der Unterhaut, die sich bei zunehmendem Alter weiter ausbreiten. Schlanke Frauen können ebenso Cellulite entwickeln wie füllige. Dennoch glauben viele Betroffene, es sei ihre Schuld, wenn sie das Problem nicht loswerden, sie treiben exzessiv Sport, benutzen scharfe Peelings, malträtieren sich mit Massagerollern. „Ich versuche, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, aber hundertprozentig gelingt mir das nicht“, sagt Heike Steinke.

Wer bestimmt, was dick ist?

Dass Übergewicht schädlich ist, lässt sich nicht wegdiskutieren. In Europa ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig, nämlich 59 Prozent. Der Anteil bei den Männern ist offenbar höher (63 Prozent) als bei Frauen (54 Prozent), so steht es im Europäischen Fettleibigkeitsbericht 2022. Bei Jungen im Alter von sieben bis neun Jahren sind es 29 Prozent, bei Mädchen desselben Alters 27 Prozent. Dennoch wollen mehr Frauen abnehmen als Männer. Warum? Wer bestimmt, was eine gute Figur ist?

Die Autorin Melodie Michelberger setzt sich gegen Bodyshaming ein. Julia Marie Werner

„Bei mir war es meine Mutter, die ihre Komplexe auf mich übertragen hat“, erzählt die Autorin und Influencerin Melodie Michelberger. 2021 rechnete sie mit dem Schlankheitswahn in ihrem Buch „Body Politics“ ab. Als Teenager war Melodie Michelberger magersüchtig. Jahrelang traute auch sie sich weder ins Schwimmbad noch an den Strand, weil sie eine verzerrte Wahrnehmung von ihrem Körper hatte. „Alles begann damit, dass ich mir als Mädchen einen Rock mit Volants gewünscht habe“, erinnert sie sich. Ihre Mutter sagte „Rüschen betonen deinen dicken Hintern, so was kannst du nicht tragen.“ Die erste Diät machte sie mit zwölf.

Endlich wieder Bikini tragen

Später wurde die heute 46-Jährige Moderedakteurin. „Das war mein Traumberuf.“ Magermodels wie Kate Moss prägten ihre ersten Berufsjahre. „Als ich in der Kantine nur gedünsteten Brokkoli aß, haben meine Kolleginnen mich für meine Disziplin gelobt, statt mich zu fragen, was mit mir los ist“, sagt sie. Nach einem Burn-Out mit Ende 30 und einer Therapie wurde ihr klar, wie stark die Vorstellungen ihrer Mutter und ihrer Kolleginnen von den Medien beeinflusst waren. „Ich verwende darum nur das Wort mehrgewichtig“, sagt sie. „Übergewicht reproduziert die Schlankheitsnorm.“ Heute trägt Melodie Michelberger Bikinis „in allen Farben“, obwohl sie üppiger ist als früher.

Der Sommer gehört allen

Die spanische Regierung startete vor genau einem Jahr eine Kampagne gegen Bodyshaming mit dem Titel „Der Sommer gehört auch uns“. Auf einem Plakat waren fünf Frauen zu sehen, mit verschiedenen Hautfarben und Leibesformen, eine davon hatte eine Mastektomie hinter sich, die Amputation einer Brust. „Alle Körper sind Strandkörper“, schrieb die Sozialministerin Ione Belarra bei der Vorstellung der Kampagne in den sozialen Medien. Die Gleichstellungsministerin Irene Montero twitterte am 27. Juli 2022: „Wir haben das Recht, das Leben so zu genießen, wie wir sind, ohne Schuld oder Scham.“ Problematisch an dieser Kampagne war aus der Sicht von Aktivistinnen, dass hier zwar Frauen gestärkt werden sollten, aber eben leider nicht um mehr Toleranz in der Bevölkerung geworben wurde. So waren am Ende wieder nur die Frauen, die an sich arbeiten sollten, obwohl es doch ganz klar die Beschämer sind, die etwas falsch machen.

Goodbye Fatshaming

Joelina Karabas, die Tochter der „Goodbye Deutschland!“-Auswanderin Danni Büchner, wehrte sich auf Instagram dagegen, als „fett“ beschimpft zu werden. „Ich möchte, dass man das Thema Bodyshaming auf Instagram nicht mehr toleriert“, schrieb sie. Aktivistinnen posten mittlerweile freizügige Bilder von ihren Rundungen. „Body Positivity“ heißt die Bewegung. Die deutsche Sozialpsychologin Anuschka Rees findet, dass sich die Anhängerinnen immer noch zu sehr auf die Schönheit konzentrieren. Ihr Gegenvorschlag lautet daher „Body Neutrality“. Rees meint, das Selbstwertgefühl sollte grundsätzlich weniger an die äußere Erscheinung gekoppelt sein.

Scham hilft niemandem

Die Autorin und Aktivistin Magda Albrecht hat mit ihrem Buch „Fa(t)shionista: Rund und glücklich durchs Leben“ viel Staub aufgewirbelt. Sie glaubt, die Dickenfeindlichkeit hänge mit dem Kapitalismus zusammen. Vom Modelideal profitierten, so Albrecht, Diätunternehmen, die Pharmalobby und die Fitnessindustrie.

Andrea Holthaus geht heute gern an den Strand, das lässt sie sich nicht mehr kaputtmachen. Kommt ihr jemand quer, lächelt sie. Die Scham zu überwinden, hat sie Kraft gekostet. „Wir leben in einer Atmosphäre der Scham. Wir schämen uns all dessen, was wirklich an uns ist; wir schämen uns unsertwegen, unserer Verwandten, unserer Einkommen, unserer Akzente, unserer Meinungen, unserer Erfahrungen, gerade so wie wir uns unserer nackten Haut schämen“, sagte einst der irische Dramatiker George Bernhard Shaw. Zu seiner Zeit gab es das Wort Bodyshaming noch nicht. Auch keine Frauen, die mutig Zeichen dagegen setzten.

Artikel teilen

stats