Es ist eine tragische Konstante im langjährigen Konflikt um die Unabhängigkeitsbestrebung eines Teiles der katalanischen Gesellschaft. Immer wenn es verzagte Fortschritte zur Beilegung dieses Konflikts gibt, funkt irgendein unvorhergesehenes Ereignis dazwischen. Nur wenige Tage nachdem sich Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez mit dem katalanischen Regierungschef Pere Aragonès im Rahmen eines institutionellen Austauschs zwischen Madrid und Barcelona getroffen hatte, sorgte die überraschende Festnahme des Separatistenführers Carles Puigdemont in Italien wieder für Unruhe.

Auch wenn bei dem Gespräch zwischen Sánchez und Aragonès erwartungsgemäß nichts Konkretes herauskam, so verständigten sich beide zumindest darauf, einen konstruktiven Dialog fortzusetzen. Doch die Verhaftung Puigdemonts zwang Aragonès dazu, den Ton gegenüber Sánchez zu verschärfen. Die Verhaftung helfe „in keinster Weise dabei, den politischen Konflikt zu lösen“, sagte der katalanische Ministerpräsident. „Schluss mit politischer Verfolgung und Repression“, forderte er und warf dem spanischen Staat Rachegelüste vor.

Aragonès ist der Chef der Republikanischen Linken ERC, Puigdemont der Führer der bürgerlichen Junts per Catalunya. Beide Parteien regieren seit Jahren zusammen in Barcelona und verfolgen die Unabhängigkeit Kataloniens. Doch liegen sie bezüglich der Marschroute zu diesem Ziel weit auseinander und streiten außerdem um die Vorherrschaft im Lager der Separatisten.

Bei sardischen Separatisten

Puigdemont wurde Ende vergangener Woche bei der Einreise nach Sardinien am Flughafen von den italienischen Behörden festgenommen. Der frühere Regierungschef Kataloniens, der sich nach dem illegalen Referendum und der folgenden Unabhängigkeitserklärung 2017 vor dem Zugriff der spanischen Justiz nach Belgien abgesetzt hatte, war für ein Festival der katalanischen Kultur und Gespräche mit sardischen Separatisten angereist. Da die Insel früher einmal zum Königreich Aragonien zählte, das große Teile des westlichen Mittelmeers inklusive Mallorca kontrollierte, hat an wenigen Orten die katalanische Sprache und Kultur bis heute Bestand. Da ihm in Spanien die Festnahme droht, bereist Puigdemont gern Gebiete, die für die Nationalisten zu „Groß-Katalonien“ zählen. So trat er im Februar 2020, kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, vor Tausenden Anhängern im südfranzösischen Perpignan auf.

Die italienischen Behörden ließen Puigdemont auf freien Fuß, und am Montag (27.9.) flog er zurück nach Brüssel, wo er als Abgeordneter einer Debatte im Europäischen Parlament beiwohnte. Die Justiz muss nun klären, ob eine Auslieferung des Separatistenführers nach Spanien zulässig ist. Dazu soll Puigdemont am 4. Oktober auf Sardinien vor Gericht befragt werden. Von Brüssel aus sicherte er seine Teilnahme zu.

Die juristische Grundlage ist höchst kompliziert. Das EU-Parlament hatte Puigdemont und zwei weiteren katalanischen Separatisten, die im selbst erwählten Exil in Brüssel wohnen, die Immunität abgesprochen. Der Europäische Gerichtshof bestätigte im Juli diese Entscheidung, weil nach Ansicht der Richter der internationale Haftbefehl Spaniens gegen den Katalanen ausgesetzt sei und er sich daher frei bewegen könne. Die italienischen Behörden waren sich jedoch nicht sicher, ob der Haftbefehl nun gültig ist oder nicht.

Der Grund der Verwirrung ist der Einspruch der spanischen Justiz vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Entscheidung der belgischen Richter, die die Auslieferung Puigdemonts an Spanien verweigert hatten. Solange sich der EuGH dazu nicht geäußert hat, gilt der internationale Haftbefehl als ausgesetzt. Das ist zumindest die Meinung der Anwälte Puigdemonts, aber auch des spanischen Justizministeriums. Schon einmal war der Separatistenführer einer Auslieferung entkommen, als er 2018 auf der Durchreise in Schleswig-Holstein festgenommen wurde. Das dortige Oberlandesgericht entschied jedoch gegen eine Auslieferung an Spanien, da es für den Vorwurf der Rebellion keine Begründung sah. Kanada wiederum verweigerte Puigdemont, der von Separatisten in Quebec eingeladen worden war, vor Kurzem die Einreise.

Mit seiner erneuten Festnahme auf Sardinien – provoziert oder ungewollt – hat Puigdemont die politische Agenda in Katalonien und Spanien wieder aufgemischt. Denn in letzter Zeit ist sein Einfluss geschwunden. Nach seiner Flucht nach Belgien bildete der Separatist eine Art Exilregierung, den „Rat der Republik“, mit dem symbolträchtigen Sitz im belgischen Waterloo. Puigdemont zog die Fäden während der Amtszeit seines Nachfolgers an der Spitze der katalanischen Regierung, Quim Torra. Doch bei den Regionalwahlen im vergangenen Februar wurde dann die ERC erstmals die stärkste Kraft im separatistischen Lager, vor Junts per Catalunya. Der Republikaner Aragonès führt seitdem die Koalitionsregierung mit Junts an, aber er ist alles andere als eine Marionette Puigdemonts.

Der Graben zwischen den beiden nationalistischen Parteien wird zunehmend größer. Die Separatisten von Puigdemont beharren darauf, dass man den vermeintlichen Auftrag der Bürger durch das verbotene Referendum vom 1. Oktober 2017 umsetzen und die Abspaltung von Spanien einseitig forcieren müsse. Die ERC sieht dagegen ein, dass man die Unabhängigkeit nicht einfach so gegen den Willen der anderen Hälfte der katalanischen Gesellschaft durchboxen könne, und setzt daher auf Verhandlungen mit Madrid über ein legales Referendum. Dies lehnt Sánchez freilich ab.

Die Minderheitsregierung von Sánchez’ Sozialisten und dem Linksbündnis Unidas Podemos ist im spanischen Parlament auf die Stimmen der Abgeordneten der ERC angewiesen, beispielsweise bei der Verabschiedung des Haushalts sowie auch Reformen. Die Republikaner sträuben sich nun jedoch, aus vermeintlichem Protest gegen die Verfolgung Puigdemonts durch die spanische Justiz. Daher ist letztendlich auch Sánchez daran gelegen, dass die italienischen Behörden von einer Auslieferung des Separatisten absehen und dem EuGH das Wort überlassen.