Von Thomas Fitzner

Denn vor der Küste baut sich an diesem Nachmittag ein Wolkengebirge auf, wie es Mallorcas Meteorologen in Jahrzehnten nicht gesehen haben: auf 17 Kilometer Höhe wächst das Monster, bis in die Stratosphäre hinein. Als das Sturmsystem in voller Breite bei Palma um 17.30 Uhr die Küste erreicht, wird binnen drei Minuten der Tag zur Nacht, verwandelt sich der „schwache Wind aus wechselnder Richtung" in einen Sturm, der Panik sät, einen Menschen tötet, Klimaanlagen von Flachdächern pustet und sogar Hochspannungsmasten umknickt.

Im Sturmjäger-Forum www.cazatormentas.net warnte „Davis" Minuten vor der Katastrophe: „Brutal, was auf Mallorca zukommt." Die Wirkung war in der Tat brutal, materiell wie psychologisch. Nicht nur das Industriegebiet Can Valero bei Palma lag in Trümmern, sondern auch das Vertrauen der Gesellschaft in die Meteorologen des INM (Instituto Nacional de Meteorología). Sie müssen sich seither dafür rechtfertigen, nicht rechtzeitig gewarnt zu haben. Die Tageszeitung „Última Hora" behauptete gar, die Internet-Sturmjäger hätten bereits Tornado-Alarm geschlagen, als die Wetterprofis noch immer die oft ausgerufene und daher nicht sonderlich alarmierende Alarmstufe Orange für starke Regenfälle beibehielten. In der Tat sahen die cazatormentas erstmals um 17.20 Uhr eine „Superzelle" (rotierendes Sturmsystem) auf Mallorca zukommen, Grund genug für Alarmstufe Rot. Freilich ist es eine Sache, Kommentare in einem privaten Forum abzugeben, und eine andere, mit Katastrophenalarm eine ganze Insel lahmzulegen.

Dennoch - Mallorca sucht seit dem 4. Oktober Antworten auf mehrere Fragen: Was ist an diesem Tag meteorologisch geschehen? Warum war niemand gewarnt? War der Sturm ein Vorbote dessen, was Mallorca durch den Klimawandel bevorsteht? Und warum bedienen sich die Wetterwarten nicht der Amateur-Foren, um Echtzeit-Informationen zu erhalten?

Auf breiter Front

INM-Meteorologe Miguel Gayá befasst sich seit mehr als 18 Jahren schwerpunktmäßig mit Sturmforschung und leitet eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema. „Das Besondere dieses Sturmes war die Ausdehnung, nicht die Stärke", erklärt Gayá. „Normalerweise ist eine Tornadoschneise 200 bis 500 Meter breit und 5 bis 10 Kilometer lang. Und Tornados der Kategorien F1 oder F2 sind durchaus nichts Ungewöhnliches im westlichen Mittelmeer." Das sind die häufigsten: F1 ist ein „Tornado light", ein F2 entwurzelt bereits Bäume, ein F3 rodet ganze Wälder. F4 und F5 sind Supertornados, von Enthusiasten auch „Finger Gottes" genannt. Gayá: „Der Oktobersturm zeigte eine neue Struktur. Fast die gesamte Insel war von einem Sturm der Stärke F1 betroffen, und innerhalb dieses Gesamtsystems kam es zu Sturmphänomenen der Kategorie F2."

Während das Sturmsystem auf 20 Kilometer Breite auf die Insel traf, entwickelten sich mehrere Tornados oder Downbursts. Tornados sind die bekannten Wirbelwinde, Downbursts hingegen Sturzwinde, also Windtunnel innerhalb des Sturms, durch die kalte Luft aus den höheren Schichten nach unten strömt, oft mit derartiger Wucht, dass sie beim Auftreffen auf den Boden eine Schockwelle erzeugt. Tornados und Downbursts treten nicht immer, aber häufig gemeinsam auf. Die Wetterwarte Porto Pí in Palma maß am

4. Oktober Sturmwinde von mehr als 100 Stundenkilometern, doch für die Zonen, die von Tornados oder Downbursts betroffen waren, wurden laut María José Guerrero, Chefin des INM-Prognoseteams, Windspitzen von 160 bis 180 Stundenkilometern errechnet.

Drei Hauptschneisen mit schweren Sturmschäden haben Gayá und seine Mitarbeiter bisher ausgemacht. Eine nahm ihren Ausgang über dem Schloss Bellver und führte durch das Gewerbegebiet Can Valero, wo einen Monat später ein Viertel der dort angesiedelten Firmen noch immer nicht zum Normalbetrieb zurückgekehrt ist, wo auch das einzige Todesopfer zu beklagen war: Ein Baustellenwächter, der sich vor dem Sturm in eine Wachkabine geflüchtet hatte und mitsamt dem Unterstand durch die Luft geschleudert wurde. Die zweite Schneise beginnt im Gewerbegebiet Son Castelló und verläuft zwischen Santa Maria und Bunyola nordwärts über die Insel. Die dritte beginnt in Sa Cabaneta (Marratxí).

Parallel zur Autobahn Palma-Inca arbeiteten sich diese Zerstörerwinde nach Norden vor. Bei Santa Maria wurde das eben erst restaurierte Dach des Luxusrestaurants Read´s abgedeckt und die gesamte Dachkonstruktion des im alten Turm eingerichteten Chefbüros in den Swimming-Pool geblasen. In Palma brachen unterdessen das Mobilfunknetz und der Verkehr zusammen. Dieser Sturm, meint Gayá, wird zum Forschungsthema werden. Ein Thema der öffentlichen Diskussion ist er schon jetzt.

Selbstkritische Meteorologen

Das Institut für Meteorologie gibt sich selbstkritisch. Die „nicht gerade perfekte Prognose" und zu späte Tornadowarnung sei Anlass zu einer internen Diskussion. Details wollte Gayá nicht verraten, doch die so gut wie beschlossene Umwandlung des spanischen Wetterdienstes von einer Generaldirektion in eine Agentur werde das Institut agiler und flexibler machen, bis hin zur Einbeziehung externer Informationsquellen (siehe Kasten). Zwischen den Zeilen kann man hier das Eingeständnis herauslesen, dass es im INM knirscht.

Die Effizienz der Meteorologen ist dabei nur einer von mehreren Faktoren, die bei der Tornado-Vorhersage mitspielen. Denn entgegen der Schlagzeilen deutscher Medien - „Mallorca wird Tornado-Land" - befindet sich die Insel seit jeher in einer Tornadozone. Dieser Umstand ist den Urlaubern und Journalisten aus Europas Norden kaum bewusst. Auch Behörden und Bevölkerung der Balearen haben Nachholbedarf. Symptomatisch ist, dass ausgerechnet der Archipel die einzige Region Spaniens ohne funktionierendes Wetterradar ist.

Ganz aus dem blauen Himmel sollte die Erkenntnis, dass die Balearen Tornadozone sind, zumindest für Residenten nicht kommen. Bekanntlich haben die Windhosen im Mallorquinischen ihren eigenen Namen: cap de fibló. Doch ordnet man diese Phänomene bislang eher dem Themenkreis des Kuriosen oder Folkloristischen zu. Sturmforscher Gayá zertrümmert das liebliche Image. Das westliche Mittelmeer werde im Herbst zur Sturmküche. „Alle vier bis fünf Jahre müssen wir auf Mallorca mit einem Tornado der Stärke F1 oder F2 rechnen", sagt er, gelegentlich könne es sogar noch stürmischer hergehen. Der letzte auf den Balearen registrierte F3 machte vor 15 Jahren auf Menorca sechs Quadratkilometer Wald platt und trotz 250 Stundenkilometern Windgeschwindigkeit nur deshalb keine internationalen Schlagzeilen, weil er nachts und in unbewohntem Gebiet wütete, ergo eine Tragödie eher zufällig ausblieb. Gayá geht in seiner Aussage noch weiter: Umgelegt auf Fläche, Sturmhäufigkeit und Intensität hat ein Bewohner der Balearen statistisch gesehen dasselbe Risiko, von einem Tornado betroffen zu sein, wie ein Bewohner der US-Staaten Kansas und Oklahoma in der weltweit als Supersturmregion bekannten „Tornado-Allee". Irgendwann, orakelt der Experte, werden wir es mit einem F5, einem „Finger Gottes", zu tun haben. Man muss allerdings weit zurückgehen, bis man auf den letzten mediterranen Supertornado trifft: Im Jahr 1671 verwandelte ein F5 in Cádiz die Goldflotte des spanischen Impe­riums in Treibholz. Auf einen solchen Sturm werden wir hoffentlich noch lange warten: Die Windspitzen des stärksten in der Neuzeit beobachteten F5 (Mai 1999 in Oklahoma) erreichten 510 Stundenkilometer.

Wenn die Balearen in einer Tornadozone liegen, warum fummelt das Institut dann seit einem Vierteljahrhundert am Projekt „Balearisches Wetterradar" herum? Gayá gesteht zu, dass der Sturm leichter, besser und früher hätte erkannt werden können. Mit ihrer Reichweite von 250 Kilometern decken die Wetterradargeräte von Valencia und Barcelona gerade noch den Westzipfel Mallorcas ab und können dort aufgrund der Erdkrümmung die erdnahe Luftschicht nicht erfassen.

Radar nicht betriebsbereit

Die Ursachen für die Verzögerungen des mallorquinischen Radarprojekts sind komplex: Streit um den Standort, Landschaftsschutz, Interferenzen mit dem Flughafenradar, Bürokratie. Seit März 2006 steht das zwei Millionen Euro teure, 16 Meter hohe Gerät am Cabo Blanco, also dem Südzipfel der Insel, und ist wegen technischer Probleme noch immer nicht betriebsbereit.

Seit dem Prognose-Fiasko des 4. Oktober musste Agustí Jansà, Direktor der INM-Zweigstelle in Palma, einen Hagel von Kritik über sich ergehen lassen. Zwei Wochen später zeigte die Über-reaktion der Balearenregierung bei neuerlichem Sturmalarm, dass die Nerven blank lagen. Gayá gibt zu bedenken, dass selbst bei einer korrekten Vorwarnung „eine Organisation über die Meteorologie hinaus" erforderlich sei, damit eine Alarmstufe Rot auch tatsächlich Schutzwirkung hätte. „In den USA gab es in den 50er Jahren hunderte Sturmtote, seither wurden die Mechanismen verfeinert, wissen Behörden und Bür<

Unvermeidlich die Frage, ob der 4. Oktober ein Vorbote dessen war, was Wissenschaftlern zufolge aufgrund des Klimawandels in verstärktem Umfang bevorsteht. Anfang dieses Jahres überschlugen sich die Medien mit apokalyptischen Prognosen, gestützt unter anderem auf einen Bericht der spanischen Regierung und einen UN-Report, die einen Anstieg der Temperaturen vorhersagen und gerade das Mittelmeer als besonders betroffene Region ausweisen. Dass der 4. Oktober diese Vorhersagen belegt, will Gayá so nicht unterschreiben. Selbst wenn die Aufzeichnungen des INM ein Ansteigen der Tornadohäufigkeit anzeigen, sei es schwierig bis nahezu unmöglich abzuklären, wie viel davon auf das Konto einer immer besseren Beobachtung geht. „Was außerhalb von Palma geschah, fand bis vor kurzem einfach nicht statt", gibt er zu bedenken. Alleine die höhere Siedlungsdichte, bessere Hilfsmittel und eine neue Kommunikationskultur sorgen für eine Zunahme der verzeichneten extremen Wetterphänomene. Homepage des Autors: www.thomasfitzner.com In der Druckausgabe lesen Sie außerdem:

Wirbelstürme: Hurrikan oder Tornado?Forschung: Hilfe von youtube und Sturmjägern