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Auswandern im Jahr 1927 - das erlebte ein Mallorquiner in Görlitz

Ein Buch sammelt Briefe von 38 Auswanderern der Gemeinde Santanyí auf Mallorca. Einer davon erzählt davon, wie es ihm in Deutschland ergeht.

Auswandern im Jahr 1927 - das erlebte ein Mallorquiner in GörlitzSebastià Adrover

„Sie mögen es nicht glauben, aber der Atem kommt aus der Nase als eine Eiswand, man kann kaum atmen (…), kann nicht mit unbedeckter Haut rausgehen. (…) Wenn Sie mir antworten, schreiben Sie mir, wie viel Grad es auf Mallorca hat.“

Eines scheint sich auch in hundert Jahren nicht verändert zu haben: Der erste Unterschied, der zwischen Mallorca und Deutschland auffällt, ist das Wetter. Damià Adrover lebt und friert erst seit wenigen Monaten in Görlitz, als er diese Zeilen am 30. Dezember 1927 schreibt. Wahrscheinlich im September desselben Jahres ist er von Mallorca nach Deutschland ausgewandert, um bei einer mallorquinischen Familie zu arbeiten, die in Görlitz ein Geschäft mit spanischen Lebensmitteln betreibt.

Ein Porträtfoto von Damià Adrover während seiner Zeit in Görlitz.

Es ist der zweite von mehr als 30 Briefen, die Adrover seinem guten Freund, dem Pfarrer Miquel Clar, schreibt. Die Kälte wird ihn in den kommenden Jahren immer wieder beschäftigen, ebenso wie die deutschen Gottesdienste und die politischen Umtriebe in dem unstabilen, fremden Land.

Die Briefe sind wie ein Blick in ein fremdes Leben, gleichzeitig ein Blick von außen auf die deutsche Gesellschaft Ende der 20er-Jahre. In dem Buch „Èxode 22,20 – Epistolari d’emigrants llombarders“ sind Briefe aus den Jahren von 1895 bis 1933 gesammelt, die 38 Auswanderer in ihre Heimat Mallorca schickten. Die meisten von ihnen stammen aus Es Llombards bei Santanyí, einige wie Damià Adrover auch aus Santanyí selbst. Er ist der Einzige, der aus Deutschland schreibt. 32 weitere Auswanderer zog es nach Argentinien, vier nach Kuba und einen nach Puerto Rico.

Not und Abenteuerlust brachten die Mallorquiner zum Auswandern

Die meisten Briefe stammen aus dem Privatarchiv der Familie des Pfarrers Miquel Clar, der die Briefe der Auswanderer gesammelt hat. Nicht alle waren an ihn gerichtet. „Viele Menschen konnten damals nicht lesen und schreiben“, erklärt Sebastià Adrover, einer der beiden Autoren des Buches. „Deswegen brachten sie die Briefe ihrer Verwandten dem Pfarrer, der sie ihnen dann vorlas.“ Zusammen mit Joan Nadal recherchierte Adrover zu den Briefeschreibern und versuchte herauszufinden, was aus ihnen wurde. „Die meisten waren auf der Suche nach einem besseren Leben“, sagt Adrover, der mit Damià Adrover nicht verwandt ist.

Außerdem habe Abenteuerlust die Inselbewohner dazu animiert, weit wegzuziehen. Die meisten von ihnen sind im Ausland geblieben. Für den Autor war die Arbeit an dem Buch auch deswegen wichtig, weil Migration ein aktuelles Thema ist. Immer wieder landen Boote aus Nordafrika an den Küsten Mallorcas. „Wir sind selbst Kinder von Migranten. Da müssen wir uns die Frage stellen: Wie gehen wir mit solchen Menschen um?“

Damià Adrover hatte eine schöne Schrift. Er schrieb seinem Freund Miquel Clar drei Jahre lang aus Görlitz.

Damià Adrover ist 20 Jahre alt, als er ins unbekannte Deutschland zieht. Wie viele Auswanderer vermisst er Geruch und Geschmack seiner Heimat. Pfarrer Clar schickt in seinen Briefen immer wieder Samen von Pflanzen von der Insel. Für eine befreundete Mallorquinerin bittet Adrover den Pfarrer um Paprikagewürz. Denn sie will endlich wieder llonganissa machen, wie die dünnen Sobrassada-Würste genannt werden. Als Ausgleich schickt Adrover Rotkohlsamen samt eines Fotos dieser für die Mallorquiner unbekannten Pflanze.

Generell interessiert sich der Pfarrer für das Leben in Deutschland. Adrover erzählt ihm, dass in den Messen viel gesungen wird, dass die Herren auf den Briefmarken Komponisten (Beethoven) und Dichter (Schiller) sind. Zudem bringt er seinem Freund die Aussprache der Wochentage bei: „Montag, Dinstag, Mitvaj, Donastag …“ Er berichtet, dass die Menschen sehnsüchtig auf Schnee warten. „Er ist die Freude der Jugend, sie machen Schneebälle und werfen sie sich an den Kopf. Mit drei Jahren fangen sie schon an, Schlittschuh zu laufen, und selbst die Alten mit weißen Haaren fahren mit Schlittschuhen“, schreibt er am 3. Dezember 1928. Er selbst habe Schlittschuhe ausprobiert und sei sofort hingefallen.

Für den Auswanderer ist eine Verbindung zu seiner Heimat Mallorca wichtig

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Der Pfarrer erzählt ihm immer wieder den neuesten Tratsch aus Santanyí. Während Miquel Clar Zeitungsausschnitte zur Lage in Spanien schickt, berichtet Adrover seinem Freund von den politischen Unruhen in Deutschland. Nach der Wirtschaftskrise 1929 sind viele Menschen arbeitslos. „Hier herrscht bei der Regierung ein ziemliches Durcheinander“, schreibt er am 11. März 1930. Bei einem Arbeiteraufstand in Görlitz hätten 8.000 Menschen, die ihren Job verloren hatten, vor dem Rathaus protestiert. „Diese Leute sind Kommunisten, die regieren wollen. In Berlin gab es 30 Tote. (…) In Görlitz war es nicht wie in Berlin, aber es gab ziemlichen Aufruhr.“

Im Dezember 1930 endet der Briefwechsel. Miquel Clar ist gesundheitlich angeschlagen, kann nicht mehr antworten. Am 16. Mai 1931 stirbt der Pfarrer an Herzversagen. Adrover bleibt noch lange in Deutschland. Er kauft sich ein Haus, das er im Weltkrieg wieder verliert. Irgendwann, es ist nicht klar, wann genau, kehrt er zurück nach Santanyí. Dort arbeitet er dann noch jahrelang als Briefträger und Deutschlehrer. Der kinderlose Damià Adrover stirbt am 5. Oktober 1979 in Santanyí.

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