1959 hat seine Großmutter ein Stück Land auf einem Hügel in Espinagar an der Ostküste gekauft. Axel Thorer war damals 19 und fand Mallorca nicht besonders spannend. Mit den Jahren änderte sich das, irgendwann erbte der passionierte Publizist und Weltenbummler, der lange Jahre stellvertretender Chefredakteur der „Bunte" war, das Haus und ließ sich in dem Anwesen am Ende einer unbefestigten Schotterpiste nieder. Dort hat er inzwischen drei Mallorca-Bücher geschrieben - und seinen Nachbarn Jaume, einen alteingesessenen Mallorquiner, kennen- und schätzen gelernt.

Unterhält man sich mit deutschen Residenten, entsteht der Eindruck, fast jeder hat so einen Nachbarn oder Kumpel namens Jaume, Pep oder Toni. Halten Sie das für glaubwürdig?

Kaum ein Deutscher kennt einen Mallorquiner, davon gibt es ja nur noch 300.000. Einen echten Mallorquiner zu kennen, der im normalen Leben nur Mallorquinisch spricht, ist für einen gewöhnlichen Mallorca-Deutschen fast unmöglich. Die kennen alle irgendeinen Jaime oder Miguel, aber die sind meist aus der Extremadura, aus Katalonien oder Galicien, das sind Gastarbeiter vom Festland.

Was müsste man tun, um echte Einheimische kennenzulernen?

Sie müssten einen Adeligen kennenlernen, aber das ist sehr schwierig. Das ist eine abgekapselte Kaste, die viel abgekapselter ist als in jedem anderen Land Europas. Und dann können Sie selbstverständlich in Kneipen in den Dörfern Mallorquiner treffen, die dort einen Kaffee trinken oder truc spielen, das traditionelle Kartenspiel. Das geht, natürlich.

Machen Sie das?

Ich mache das zwangsläufig, weil ich öfters bis zu 200 Kilometer am Tag fahre, um Dinge zu finden oder zu verifizieren, von denen ich gehört habe, da ich mich auf den Spuren des Mallorquinischen bewege, ständig.

Als Hobby oder recherchieren Sie für ein neues Buch?

Ich führe privat ein Mallorca-Lexikon, das sich auf meinem Computer befindet. Das hat inzwischen 3.000 Seiten, da steht alles drin, was man über die Insel wissen sollte, sozusagen die deutsche Version der 24-

bändigen Gran Enciclopedia de Mallorca, also ich übersetze die nicht, ich mache die selbst, aber das ist in etwa das Äquivalent dazu.

Was haben Sie in jüngster Zeit entdeckt?

Zum Beispiel, dass eine ungeheure Unzahl schöner Dinge, die zur

mallorquinischen Kultur gehören, verschwunden sind. Die zu finden, ist sehr schwierig. Es gibt etwa eine großartige Knopfkultur, Bekleidungsknöpfe, die feinste Juwelierarbeit darstellen. Oder die herrlichen, gestickten Umhänge der alten Mallorquiner. Ich habe nie einen live gesehen, also suche ich einen.

Man kann auf der Insel also noch etwas entdecken, obwohl alles abgegrast und bereits in einem der zig Mallorca-Reiseführer zu stehen scheint?

Es gibt derzeit ungefähr 800 Bücher über Mallorca, davon können Sie 200 sofort in die Tonne treten. 400 sind identisch, weil sie voneinander abgeschrieben sind, weitere 100 sind sehr liebenswürdig, aber albern, weil irgendeine gelangweilte Society-Dame oder ein Oberlehrer in den Ferien irgendwas aufgeschnappt und zusammengeschrieben hat - da sind sehr viele Perlen darunter, aber damit können Sie nicht reisen. Die rest­lichen 100 sind richtig gut.

Darin findet man die sogenannten Geheimtipps?

Ein schreckliches Wort, ich würde nicht Geheimtipps sagen, sondern Unentdecktes. Denn Unentdecktes kann sich ja von Saison zu Saison ändern. Etwa eine Kneipe, die es voriges Jahr noch nicht gab, eine reparierte Bergstraße, die ich nun befahren kann. Oder ein kleines Hotel in den Bergen bei Pollença, das nur vier Zimmer hat und wo nur eigenes Obst und Gemüse aufgetischt wird. Oder dass es auf dem Puig de Sant Miquel bei Montuïri immer mal wieder einen wunderbaren hierbas auf Feigenbasis gibt, ein ganz sanftes Getränk. Das sind meiner Meinung nach Geheimtipps, aber ich würde es Entdeckungen nennen.

Ist es klug, solche Entdeckungen zu verraten?

Nicht unbedingt, wenn man sie selbst noch genießen will. Ich habe zwei Dinge ruiniert auf der Insel, was ich sehr bedauere. Zum Ersten die Cala Varques, die war total unbekannt, das war die Badebucht unserer Familie, aber nachdem ich 15 Mal über ihre Schönheit geschrieben habe, war sie tot. Daran bin ich schuld. Und das Zweite war das Tal von Son Macià zwischen Manacor und Cales de Mallorca. Da schrieb ich, dass ich es nicht verstehe, warum man sich in dem schönsten Tal Mallorcas nicht ansiedelt. Heute ist es voll gespickt von Häusern, alles Deutsche, dass es sich anfühlt, als ob man durch ein zehn Kilometer langes Dorf fahren würde, das hab´ ich ruiniert.

Wollen die Urlauber überhaupt was entdecken?

Unter den fast vier Millionen deutschen Urlaubern, die hier pro Jahr herkommen, gibt es vielleicht 100, die von sich aus auf Entdeckungsreise gehen. Die Touristen interessieren sich für nichts außer Sonne, Sand, Strand, wann gibt es Essen, wie ist die Vollpension. Wobei der Ruf Mallorcas nicht so ist, dass man ahnt, dass diese Insel voll ist mit Highlights und Kultur, das weiß kein Mensch. Typisches Beispiel: Ich war im Archäologischen Museum von Montuïri, das ist sehr gut gemacht, alles multimedial aufbereitet, und da schaut mich die Mitarbeiterin ganz erstaunt an, fragt mich, woher ich komme, und sagt: Gratuliere, Sie sind mein erster Deutscher in diesem Jahr. Und dasselbe in der Kirche La Porciúncula an der Playa de Palma, sensationell, vor allem das Museum. Die haben alles gesammelt, was es in den letzten 1.000 Jahren auf

Mallorca gab, vom Hochrad bis zum Motorrad, vom ersten Grammofon bis zu einer Münzsammlung mit allen DDR-Münzen. Unvorstellbar! Aber die Deutschen interessieren sich nicht dafür, da geht keiner hin.

Und wie ist es um das Insel-Interesse der Residenten bestellt?

Die sind generell unternehmungs­lustiger als die Touristen. Aber nicht aus Neugier, sondern aus Langeweile. Die wissen nicht, womit sie ihre Tage verbringen sollen. Oder wie Ihr ehemaliger Kollege Thomas Fitzner so wunderbar gesagt hat: Wir haben hier auf den Insel 20.000 Hobby-Fotografen, 40.000 Hobby-Maler, 100.000 Hobby-Gärtner und 10.000 Keramiker. Das geschieht aus Langeweile und nicht so sehr aus wahrem Interesse.

Bei Rentnern mag das verständlich sein, aber es gibt doch auch junge Leute, die arbeiten gehen und beschäftigt sind.

Für Mallorca muss man über 40 sein, darunter sind Ibiza und Formentera die richtigen Inseln. Mallorca ist für junge Leute keine Unterhaltungs­insel, deswegen gibt es ja auch kaum junge Leute. Die Gründergeneration, die Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre kam, die Großeltern, die waren hier glücklich, die sind hier gestorben. Deren Kinder sagten sich dann, na ja, wir haben hier ein Haus geerbt, da fahren wir mal hin. Aber die Enkel, die 20- bis 35-Jährigen denken da noch gar nicht dran. Die fahren doch nicht nach Cala Murada in die Klitsche ihrer Großeltern. Was sollen sie da, an den Strand gehen, wo die Leute sich tottreten? Aber wenn die mal 40 oder 50 sind, dann kommen die alle zurück.

Warum? Warum diese Sehnsucht nach Mallorca?

Wegen der Nähe, zwei Stunden. Ich kann sofort weg, wenn mir was nicht gefällt, das geht in Neuseeland oder Arizona nicht. Und man braucht keine Angst zu haben, man spricht deutsch, man fühlt sich nicht verloren, es ist quasi ein 17. Bundesland.

Ist das nicht bedauerlich, zumindest für die Mallorquiner?

Glauben Sie wirklich, dass die Mallorquiner das stört? Denen ist das scheißegal, die finden jeden Ausländer, der die Insel verlässt, prima. Denn die große Ungerechtigkeit ist ja die, dass die Mallorquiner vergessen haben, dass wir sie reich gemacht haben. Die haben kein Gold oder Öl entdeckt, es war der Tourismus. Aber dann trat die völlig normale Phase ein, dass der Mallorquiner mit den Leuten, die ihn reich gemacht haben, möglichst wenig zu tun haben wollte. Um nicht vorgeführt zu bekommen, dass das die Leute waren, die ihn finanziert haben. Wobei das mit der Integration ohnehin nicht das Ideal ist. Denn der Mallorquiner, der weiß, dass er ein aussterbendes Volk und eine Minderheit auf der Insel ist, der möchte nicht, dass die Leute sich integrieren. Der möchte den Leuten auch keine Hilfe geben, der möchte nicht, dass die Deutschen alles wissen. Ich unterhalte mich mit meinem Freund Jaume sehr oft über mallorquinische Rätsel oder Bräuche, und er erzählt mir dann seine Geschichten und erklärt, was ich nicht verstehe an Mallorca, und eines Tages sagt seine Frau Ángela in breitem, für mich kaum verständlichem

Mallorquinisch: Erzähl dem doch nicht alles, die sind doch erst 50 Jahre hier. Das ist natürlich ein bisschen scherzhaft gemeint gewesen, aber im Kern steckte durchaus Wahrheit: selbst mir nicht, der ich mich und meine Familie für ausgesprochen gut integriert halte. Ob Sie integriert sind, merken Sie, wenn Ihre Großmutter Tía Carlota und Ihre Mutter Tía Maria oder Ihre Frau Paloma Blanca gerufen werden. Wenn es heißt Señora Schuster, dann sind Sie nicht integriert.

Sollen sich die Deutschen also integrieren, auch wenn die Mallorquiner das gar nicht wollen?

Man kann allen raten, sich zu integrieren, und zumindest Spanisch zu lernen, aber sie müssen damit rechnen, dass die Mallorquiner über 5.000 Jahre ihre Eigenart erhalten haben, indem sie sich abgekapselt haben. Dadurch haben sie alles überstanden, Römer, Byzantiner, Mauren, Festlandspanier, Deutsche, Touristen. Das war ihre einzige Chance. Deshalb finde ich es albern, wenn man sich über die Korruption wundert. Ich bin absolut dafür, das ist das letzte Privileg eines aussterbenden Volkes: für das, über das es Macht hat, nämlich Genehmigungen zu erteilen, Geld zu nehmen. Was haben sie denn sonst noch?

Und ein Jaume Matas darf Millionen unterschlagen?

Man muss unterscheiden zwischen unterschlagen und korrupt sein. Wenn man ein Drittel öffentlicher Millionen für sich abzweigt, ist das Bereicherung, blanke Habgier, dafür muss man sofort ins Gefängnis. Aber wenn man zur Gemeinde geht, weil man einen Swimmingpool bauen möchte, und da heißt es, das ist Naturschutzgebiet, und man dann zum Beispiel einen neuen Antrag für ein Wasserdepot stellt, damit die Feuer­wehr notfalls einen Brand löschen kann, muss man den Beamten mit höchster Wahrscheinlichkeit überzeugen, mit einem Geldschein, doch dafür bekommt man einen Pool, das finde ich in Ordnung. Die Macht hat er, man will etwas von ihm, also findet man einen Weg, und dafür gibt es einen Obulus.

Apropos Geld: Haben die Mallorquiner ihre Insel verkauft?

Niemand hat einen Mallorquiner gezwungen, sein Grundstück zu verkaufen. Meine Großmutter fragte damals den Wirt hier, ob denn jemand Land verkauft. Da meldete sich Bauer Gabriel und sie kaufte eine quarterada, 7.300 Quadrat­meter, den Quadratmeter für 80 Pfennig. Aber dann kamen zehn Bauern und sagten: Warum lässt du den verdienen und uns nicht? Und weil meine Großmutter Angst hatte, sich mit denen zu verfeinden, hat sie von allen Bauern ein Stück Land gekauft und wir saßen plötzlich auf 91.000 Quadratmetern. Die verkauften alle freiwillig, aus Habgier. Die Habgier ist ein wesentlicher Zug der ­Mallorquiner.