Mallorca Zeitung

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Magische Orte zwischen Meer und Berg: Wenn die Menschen an der Nordwestküste Mallorcas von früher erzählen

Wenn Felsen erzählen könnten: Ein neues Buch rettet mündlich überliefertes Wissen alter Fischer an der Steilküste zwischen den Gemeinden Banyalbufar und Escorca

So schön manche Ankerplätze, so schwer waren sie oft zugänglich. Miquel Martorell

Der Mond beleuchtet die Bucht am Torrent de Pareis auf Mallorca. Pere, Clement, Xisco und Llorenç bringen im Dunkel der Nacht ein riesiges Netz zwischen den hohen Felswänden aus. Auf der zum Strand gewandten Seite misst es 400 Meter, zum Meer hin verjüngt es sich zu einem Sack, der für Fische aller Art zur Falle wird. Um das Netz einzuholen, sind sechs bis acht Männer nötig. Sie zerren es in einem gemeinsamen Kraftakt in Richtung Strand, möglichst gleichmäßig, damit der Fang nicht entkommen kann.

Bernsteinmakrelen, Tintenfische, Langusten – die Ausbeute ist reich. Pere, dem das Netz gehört, verkauft den Fang nicht, sondern verschenkt ihn. Ganz Sóller freut sich am Tag darauf über frischen Fisch. Freunde, Nachbarn und Bekannte bekommen etwas davon ab, auch die Nonnen im Ort, nicht zu vergessen ein oder zwei Eimer für die Guardia Civil. Bolitxar, wie die traditionelle Fangmethode heißt, ist schließlich offiziell verboten. Im Gegenzug fürs Wegschauen suchten sich die Beamten zuweilen ihren Fisch direkt aus dem Netz aus.

Pere Estades Balaguer ist heute 74 Jahre alt. Die Erlebnisse aus seinem Fischerleben hat er dem Autor Miquel Martorell erzählt, genauso wie eine Reihe weiterer betagter Fischer von der Nordwestküste. Es sind die letzten Mallorquiner, die noch von längst aufgegebenen Fangmethoden, fast unzugänglichen Revieren und eindrücklichen Erlebnissen berichten können. Herausgekommen ist ein Buch, das zwar vom Fischerberuf erzählt, aber auch von Haien, Walen, Mönchsrobben und weit reisenden Aalen, vom allgegenwärtigen Schmuggel, von Viehhaltung, Forstwirtschaft und Steinbrüchen an der ausgesetzten Steilküste, und letztendlich auch von Geschichtsvergessenheit, der Überfischung der Meere und den längst sichtbaren Folgen des Klimawandels.

Miquel Martorell dokumentiert schwer zugängliche Angelplätze.

Martorell ist kein Fischer, Historiker oder Schriftsteller, sondern Landwirt in Santa Eugènia, fernab der Küste. Ihm gehört aber eine abgeschiedene Baracke im Barranc de Biniaraix in der Gemeinde Sóller - über die Schlucht hat er zuvor ein erstaunliches Buch geschrieben. Den Mallorquiner faszinieren die Unmittelbarkeit von Berg und Meer genauso wie die Menschen, die hier früher ihr Auskommen suchten. „Für sie sind es ganz normale Dinge, wenn sie von ihrem Leben erzählen“, so Martorell über die 44 zumeist längst pensionierten Fischer, deren Bekanntschaft er in den vergangenen Monaten gemacht hat und deren Vertrauen er gewann.

Namen, die kein Atlas kennt

So viel über Mallorca bereits geschrieben wurde – Martorell versammelt in seinem Buch ein bislang praktisch nur mündlich weitergegebenes Wissen. In mühevoller Kleinarbeit hat er Namen von Fischer- oder besser gesagt Angelplätzen an der Steilküste dokumentiert, die weder im Atlas noch bei Google Maps stehen. Pesquera de s’Escatet, Pesquera des Cap Gros, Pesquera des Xorriguer – je gefährlicher der Abstieg zu den Angelplätzen auf den Felsen, je höher die Wellen, desto geringer die Konkurrenz durch andere Fischer und desto reicher der Fang. Manche Zugänge fand Martorell erst nach mehreren Anläufen und stieß dann bei den Kraxel- und Klettertouren auf schier magische Orte. Die Routen behält er für sich. Es reiche ja, wenn sich die Urlauber in Sa Calobra und in der Bucht von Deià drängen.

So manche Höhle diente als Schmuggelversteck.

Manche Fischer brachen schon am Vorabend auf, um sich den besten Platz zu sichern. Den Köder warfen sie vor allem nach den zahlreichen oblades aus, Bandbrassen. Die wendigen Raubfische ließen sich nahe der Oberfläche mit Brot oder Fischabfällen anlocken. Felsvertiefungen mit Wasser darin, cocons, dienten als Depot für den Fang bis zum Zeitpunkt des Wiederaufstiegs. Sie durften nicht zu nahe an der Brandung liegen, damit die oblades nicht wieder entkamen.

Um auf dem glatten Fels nicht auszurutschen, half eine Handvoll Mehl. Schlugen die Wellen hoch oder kam ein Sturm auf, band sich manch Fischer mit einem Seil fest, um nicht ins Meer gezerrt zu werden – was dennoch vorkam. Die Fischer hatten ein Gespür für die besten Plätze, und kamen sie nach Hause, wusste oft die Frau mit einem Blick auf den Fang, wo ihr Mann fischen war. Schmale und geruchsarme Brassen – Küste zwischen Sóller und Deià. Rundliche und stärker riechende Brassen – Küste zwischen Sóller und Cala Tuent.

Kaffee und Tabak

Einträglicher, aber noch gefährlicher war der Schmuggel. Über ihn wollte Martorell eigentlich gar nicht schreiben. Doch beim Lesen des Buches wird schnell klar: Fisch einerseits sowie geschmuggelter Tabak, Kaffee und Zucker andererseits waren über Generationen hinweg genauso selbstverständliche wie kompatible Einnahmequellen. Aufgabe der angeheuerten Fischer war es, die oft 60 Kilo schweren Säcke von den Booten an Land zu hieven und in Höhlen zu deponieren. Ein besonders raffiniertes Versteck, das der Autor beschreibt, war meerwärts mit einem Felsblock getarnt, der auf einer Schiene manövriert wurde. Die Helfer verbargen die Säcke unter einem doppelten Boden. „Die Guardia Civil inspizierte die Höhle, und niemals hätten die Beamten gedacht, dass unter ihren Füßen Unmengen Kaffee lagerten.“

l Fischfang im Torrent de Pareis. l Marès-Abbau per Boot. l Transport von Schafen per Seilwinde. | ILLUSTRATIONEN: MARTÍ MARCH/VICENÇ SASTRE

Marès-Abbau, Forstwirtschaft und Viehhaltung am Abgrund

Es gab noch weitere Einnahmequellen. Martorell staunte nicht schlecht, als er bei seinen Exkursionen auf kleine Steinbrüche stieß, infolge von Erosion und wuchernder Vegetation erst von Nahem zu erkennen. An der Steilwand in rund 20 Meter Höhe wurde Marès herausgeschlagen, um die Steinblöcke dann womöglich mit Seilwinden zum Abtransport in Boote abzulassen. Oder schmiss man den Sandstein nach unten, um ihn an Bord zu hieven? So groß der Hunger, so groß auch der Erfindungsreichtum, kommentiert Martorell lakonisch.

Nicht viel anders verfuhr man mit Kiefernstämmen – Forstwirtschaft in den 1960er- Jahren im Gebiet der Pesquera de Sa Coma, südlich von Sa Calobra gelegen. Die Bäume wurden gefällt, die Stämme entrindet und ins Meer gelassen. Nur Äste und kleinere Kiefern passten an Bord. Die größeren Stämme banden die Fischer mit Seilen an ihre Boote, um sie auf diese Weise in den Hafen von Sóller zu schleppen. Von dort ging es dann per Eselskarren weiter ins Sägewerk.

Auch die unzugänglichsten Orte waren noch geeignet, um Vieh zu halten. Auf eine ungewöhnliche Schafweide stieß Martorell bei Sa Falconera – ein praktischerweise von Steilwand und Meer eingefasstes Terrain, wo die Tiere in den 1970er-Jahren mitunter monatelang weideten. Weniger praktisch war der Zugang: Den Schafen wurden die Beine mit Stricken zusammengebunden, die Stricke dann an einem Seil befestigt, um die Tiere eines nach dem anderen über eine an einem Kiefernstamm angebrachte Seilwinde in die Tiefe zu befördern. Es ist eine Geschichte, die Martorell erst so recht glauben konnte, als er sich selbst an der Stelle abseilte und die steinerne Tränke fand, die ihm seine Zeitzeugen beschrieben hatten.

Auch an der Steilküste von Sa Costera, nordöstlich von Sóller, wurden Schafe gehalten, im Wechsel mit weit entfernten Weiden. Zeitzeuge Tomeu weiß aus seiner Kindheit zu berichten, wie sein Vater für ihn eine Unterrichtsbefreiung einholte, damit er ihn als Hirte begleiten konnte. Mit der Herde von rund 150 Tieren ging es in Tagesetappen über Fornalutx bis Binissalem oder Lloseta.

Fischen per Sprengstoff

So sehr die Menschen in Einheit mit der Natur lebten, so verstörend sind doch einige Erinnerungen der Küstenbewohner. Ob Mönchsrobben, Schildkröten oder Haie – landete unverhoffter Beifang im Netz, ging es meist allein um die Frage, ob er essbar oder zu Geld zu machen war. Sogar mit Sprengstoff wurde in den 1950er-Jahren im Gebiet von Sa Foradada „gefischt“, wie sich ein heute über 90-Jähriger erinnert. Danach dauerte es Monate oder Jahre, bis sich die Bestände erholt hatten.

Das Aalwunder

Früher gab es nicht nur mehr Fisch, die Exemplare waren auch durch die Bank größer. Die alten Fischer wissen von acht Kilo schweren Tintenfischen zu berichten, von riesigen Krabben, von 600 Kilo schweren Thunfischen. Und von Aalen. Die gab es nicht nur in der s’Albufera bei Sa Pobla, sondern auch in großer Zahl in den Sturzbächen, mitunter angezogen von Schlachtresten, die dort entsorgt wurden. Die Fischer kamen von weither nach Sóller, um die anguiles zu fangen.

Martorell hat sich die Spezies genauer angeschaut. Die Aale schlüpfen im Atlantik, legen mehrere Tausend Kilometer zurück und kletterten auf Mallorca über die Sturzbäche bis hoch zum heutigen Stausee Gorg Blau. Ein Fischer erzählt, wie er dort bis in die 1970er anguiles fing. Dann wurde die Stausperre gebaut, es entstand ein unüberwindbares Hindernis. Die immer trockeneren Flussbette machen den Aalen das Leben zusätzlich schwer. Noch aber kommen sie nach Mallorca, wie der Autor weiß. Er staunte nicht schlecht, als ihm ein 90-jähriger Fischer Exemplare im Sturzbach von Sóller zeigte. Und auch im Torrent de Pareis wurden zuletzt noch einzelne Exemplare gesichtet.

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