Am Mittelmeer wird erzählt, dass sich die Balken biegen: Der Märchenforscher Felix Karlinger merkt in seinem Nachwort zu dem neuen Buch „Balearische Märchen, Fabeln und Schwänke" an, dass die Inselgruppe einen besonders guten Nährboden für farbige und vitale Geschichten bietet.

Dem kann Heide Wetzel-Zollmann nur beipflichten. Als die Journalistin in den 90er Jahren bei den Arbeiten für ein Buch über die Geschichte der Insel auf eine Sammlung mallorquinischer Märchen stieß, war sie auf Anhieb fasziniert. „Bei manchen Texten habe ich mich schiefgelacht. Das ist dermaßen witzig und bildhaft und pfiffig erzählt, dass ich es unbedingt ins Deutsche übertragen wollte."

Die langjährige MZ-Mitarbeiterin beherrschte zwar kein Katalanisch, doch ermöglichten ihre kombinierten Französisch- und Spanisch-Kenntnisse, die Texte zu verstehen. Allmählich kaufte sie die 24 Bände umfassende Sammlung („Rondaies mallorquines d´en Jordi des Racó", Editorial Moll) komplett zusammen. Dann kontaktierte sie den Märchenexperten Karlinger mit der Bitte um Rat. Sie wolle eine Auswahl treffen und ins Deutsche übersetzen.

Karlinger schlug ihr vor, das Netz weiter auszuwerfen und auch Märchen der anderen Inseln einzubeziehen. Wetzel-Zollmann las also Geschichten, die der Menorquiner Andreu Ferrer Ginart und der Ibizenker Joan Castelló Guasch auf den anderen Balearen-Inseln gesammelt hatten, sowie einige Fabeln von Ramon Llull (s. Seite 28).

Dann machte sich die heute 66-Jährige an die Auswahl und verwarf zunächst jene Geschichten, die bereits auf Deutsch erschienen waren. Wetzel-Zollmann war ja nicht die Erste, die auf den Schatz aufmerksam geworden war: Schon im 19. Jahrhundert hatte der österreichische Erzherzog Ludwig Salvator erstmals ein Buch mit mallorquinischen Märchen in deutscher Übersetzung herausgebracht. Und im 20. Jahrhundert hatten sich der Übersetzer Alexander Märker und auch Karlinger über traditionelle Inselerzählungen hergemacht.

Das zweite Auswahlkriterium: Die Märchen sollten keine Ähnlichkeit mit anderen, ihr bekannten Volkserzählungen aufweisen. Schließlich gab Wetzel-Zollmann auch jenen Geschichten den Vorzug, die klare Bezüge zur balearischen Geografie aufweisen.

Und natürlich folgte sie ihrem Geschmack. Um die Sammlung bunter zu gestalten, bezog sie auch Fabeln und Schwänke mit ein. Zwei Jahre lang hat sie in dieser ersten Phase an den 30 Texten „herumgemacht" und eine Rohübersetzung erstellt. Wenn sie vor den oft altbackenen Formulierungen kapitulierte, suchte und fand sie Hilfe bei Pater Gabriel Llompart, einem renommierten Volkskundler mit guten Deutschkenntnissen.

Währenddessen pflegte sie mit Karlinger, der die bekannte Diederichs-Buchreihe „Märchen der Weltliteratur" mitbetreute, einen regen Briefkontakt, und der Experte schrieb damals auch ein Nachwort für das in Vorbereitung befindliche Buch. Im Jahr 2000 verstarb Karlinger, und die Autorin legte das Projekt aus Zeitgründen vorläufig auf Eis. Erst 2008 nahm sie den Faden wieder auf und brachte die Arbeit zu Ende. Mit frischem Blick überarbeitete sie die Texte „Wort für Wort". Dann war nur noch ein Hindernis zu überwinden: die Rechte.

Wetzel-Zollmann kontaktierte den Editorial Moll. Der Verlag war von Francesc de Borja Moll, einem Mitarbeiter des Autors der großen Märchensammlung, Antoni Maria Alcover, gegründet worden. Die Enkelin des Gründers und aktuelle Verlagsleiterin, Susanna Moll, hatte anderes im Sinn: Sie gab die Rechte nicht ab, sondern holte das Projekt in ihren Verlag. Und weil sie perfekt Deutsch spricht, besorgte sie auch das Lektorat.

Dass den beiden Frauen die Balearen-Märchen so gut gefallen, ist kein Wunder: „Männer sind darin fast immer die Blöden", sagt Wetzel-Zollmann lachend. Was kurios sei, denn die Geschichten seien ja im Allgemeinen von Männern erzählt worden. „Aber wahrscheinlich hat man schon damals erkannt, wie die Dinge wirklich stehen."

In den Märchen, sagt die Übersetzerin, kämen Frauen jedenfalls ein bisschen listiger, gemeiner, auch „hexiger" rüber, während sich die Männer meist tölpelhaft anstellen. Noch mehr als diese Rollenverteilung gefiel Wetzel-Zollmann die Kreativität in der Sprache, die sie möglichst wörtlich ins Deutsche übertragen hat. „Er läuft so schnell, als hätte er Feuer in den Schuhen", heißt es da, oder es wird von jemandem berichtet, der so schlau ist, „dass er weiß, wo der Teufel sich zum Schlafen hinlegt". Für die Übersetzung hat sich Wetzel-Zollmann auch von alten deutschen Märchenbüchern inspirieren lassen. „Die heutige Sprache klingt anders, sie hätte die Aura gekillt."

„Balearische Märchen, Fabeln und Schwänke", ausgewählt und übersetzt von Heide Wetzel-Zollmann, Editorial Moll, Palma, 12 Euro.

In der Printausgabe vom 7. April (Nummer 570) lesen Sie außerdem:

- Die Kriegsgefangenen von Artà

- Mit der MZ die Insel erradeln: Ziemlich schnell nach Sant Salvador

- wegweiser: Rundwanderung beim Kloster Lluc

- Kindermenü: Willkommen in der Vorpubertät!

Diese Artikel finden Sie auch hier.