Der Fotograf flucht. Wir gehen einen steinigen Weg in der Nähe von s´Arracó am Fuße der Tra­muntana entlang. Es ist ein mühsamer Marsch. „Der Herbert sieht schon ein bisschen scary aus", sagt die junge Frau, die uns den Weg weist. Sie heißt Hannah Bondy. Ihr Vater ist der Dokumentarfilmer Arpad Bondy.

Im Jahr 1983 hat er einen Film gedreht über einen Aussteiger aus Bayern, der auf Mallorca lebt. Herbert Schiffl. Im Film sieht man einen bärtigen Mann mit Baskenmütze, der auf einem Karren durch die Gegend fährt und sein Leben möglichst authentisch mallorquinisch gestaltet. Im Grunde erzählt der Film zwei Geschichten: Die von Herbert Schiffl und die vom Erzherzog Ludwig Salvator und dessen Bemühen, das landschaftliche und kulturelle Erbe Mallorcas zu wahren. Letztere Geschichte dürfte heute weitaus bekannter sein als damals. Der Film heißt: „Herbert y el Archiduque" und wird in den nächsten Tagen in Andratx und Palma gezeigt (s. u.).

Wir sind auf dem Weg zu Schiffls Finca. Denn er lebt immer noch da. 83 Jahre alt. Ein Mann mit langem weißen Bart und zum Pferde­schwanz gebundenen Haaren. Auch seine Frau gibt es noch, sie ist ebenfalls im Film zu sehen. Herbert Schiffl grüßt freundlich, man muss wirklich keine Angst haben. Er fängt gleich an zu erzählen. Den bayrischen Akzent, der im Film so auffällig, so dominant ist, den hat er beibehalten.

Nach Mallorca kam er 1973, weil er ein Auto für einen Freund hier hierhin fuhr. Er hatte gerade keine Arbeit in Deutschland. Ohne dass das bei der Abfahrt so geplant war, schien es die perfekte Gelegenheit, ein neues Leben anzufangen. „Als ich in s´Arracó ankam, war das Dorf sehr rückständig. Es gab gerade mal 13 Pferde, Esel und Maulesel und vier Autos. Ich stellte schnell fest, dass es ein idealer Ort für ökologische und nachhaltige Landwirtschaft war." Für Schiffl war es das Paradies.

Ein besonders junger Mann war er schon damals nicht, zumindest hatte er nicht das Alter, in dem man sich üblicherweise in ein solches Abenteuer stürzt. Er war 41 und hatte eine Karriere als Tänzer in Deutschland hinter sich. Eine Karriere, die auch mit viel Frust verbunden war. „Das Fernsehen hat das Varieté in Deutschland getötet", sagt Schiffl. Er hat eine ausgeprägte Technikphobie. Handys, Tablets, Computer. Das fasst er alles nicht an. Unpraktisch, aber konsequent. Seine quietschpinke, digitale Armbanduhr ist da schon fast ein Bruch mit seiner selbst auferlegten Abstinenz.

Die Nachbarn standen ihm bei seinem Neuanfang zur Seite. „Die Hilfsbereitschaft damals war groß. Nach und nach sind die Alten aber verstorben, und niemand kam nach." Allerdings sei es nicht so einfach gewesen, den Bauern ihr Wissen zu entlocken. „Die Alten wussten alles über ihre Felder und wann man was pflanzt. Sie waren aber völlig un­fähig, es zu erklären."

- Wann pflanzt ihr die Tomaten?

- Wenn die Zeit reif ist.

- Wann ist das?

- Hängt von den Umständen ab.

- Welche Umstände?

- Ob es geregnet hat oder nicht.

Das muss die Zeit gewesen sein, als ihm die Bücher des Erzherzogs Ludwig Salvator empfohlen wurden. „Die Balearen - geschildert in Wort und Bild." Hier fand Schiffl detaillierte Informationen über Traditionen, Landwirtschaft und Kultur. „Es war in diesem Moment genau das Richtige, eine Gebrauchsanweisung. Leider haben die Leute sie nicht respektiert. Heute lese ich, dass über die Via Cintura in Palma täglich 70.000 Autos fahren. Das sind für mich 100.000 Tonnen Stahl, die täglich von A nach B transportiert werden, um 70.000 Ärsche zu bewegen."

Als Schiffl auf Mallorca ankam, entledigte er sich des Autos und kaufte sich einen Maulesel. Der lebte zehn Jahre. Er war sein einziges Fortbewegungsmittel. In Zeiten, wo die Menschen sich ihr erstes Auto kauften, hielt er an Traditionen fest, die nicht die seinen und auch schon am Verschwinden waren. „Wenn in Rom wie die Römer tun, sagt man." Nach dem Maulesel kauften er und seine Frau sich Motorroller. Heute haben auch sie Autos. Lange hat er ohne Strom gelebt, jetzt hat er Solarzellen.

Regine Kempf ist Französin. Die 70-Jährige kam ein halbes Jahr nach Schiffl im Urlaub nach Mallorca. „Wir haben uns kennengelernt und festgestellt, dass wir sehr ähnliche Vorstellungen davon haben, wie wir leben wollten." Sie sprechen Deutsch miteinander, sie ist Germanistin. Kempf ist Künstlerin. Sie fertigt kleine Landschaften aus Stoffen, die sie zusammensucht. Der Verkauf dieser Bilder ist in den letzten Jahren eine wichtige Einnahmequelle für das Paar geworden.

Davor hat Schiffl alle möglichen Jobs gemacht. Er hat Mandeln geerntet und war Koch auf einem Segelschiff in norwegischen Gewässern. Mit dem Lohn für drei Monate hat er dann Land gekauft. Um es, wie der Erzherzog, zu schützen. „Die Leute haben uns für verrückt erklärt", sagt Kempf. „Sie haben gesagt: Da ist so ein bekloppter Deutscher, der alles kauft, was man ihm anbietet." Allerdings sei damals keine Spekulation im Spiel gewesen. „Die Leute wussten, wie viel Arbeit ein Acker macht und wollten sich dieser Bürde entledigen", sagt Schiffl. „Allerdings wussten sie auch, wie viel das Land tatsächlich wert ist. Der Preis richtete sich danach, was ein Mann auf dem Land erwirtschaften kann. Allein deshalb konnten wir es uns leisten."

Eine andere Arbeit, die er häufig gemacht hat, war die Restauration von Ruinen. So hat er auch mitgeholfen, das Haus von Arpad Bondy, dem Regisseur, zu renovieren. „Ich bin ein Ruinen-Fan", sagt Schiffl. „Als ich klein war, wurde meine Heimatstadt München zerbombt. Im Krieg war das ziemlich nervenaufreibend, aber nach dem Krieg war es grandios. Ich habe im Zentrum der Stadt gelebt und hatte eine drei Quadratkilometer große Spielwiese."

Auch sein eigenes Haus, eine alte Gipsfabrik, hat er nach und nach hergerichtet. Aber nicht ganz. „Hier im Eingang ist eine Mauer eingefallen. Ich habe oft überlegt, sie zu reparieren. Aber alte Männer sterben, wenn ihr Haus fertiggestellt ist. Da bin ich abergläubisch. Und so erfreue ich mich jeden Tag an der Unfertigkeit meines Hauses."

Sein letzter Job in Deutschland war am Theater in Bochum. Mit Rainer Maria Fassbinder, für den Schiffl als Choreograph arbeitete. Von der Industriestadt Bochum in die Wildnis von s´Arracó. Kein Wunder, dass Schiffl diesen Ort für das Paradies hält. In Bondys Film von 1983 erzählt er, er habe den Lärm nicht mehr ertragen können, die Hektik, den Umstand, dass alles Geld kostet in der großen Stadt.

Jetzt, über dreißig Jahre später, wirkt er allerdings nicht wie ein Zivilisationsflüchtling. Zumindest nicht wie ein Besessener. Eher wie jemand, der seinen Platz in der Welt gefunden hat. Diese Finca, gut versteckt, in den Bergen um s´Arracó. „Ich warte darauf, dass jemand Junges kommt, mit den gleichen Ideen, wie ich sie damals hatte. Aber ich glaube, das wird schwierig." Immerhin, seine eigenen Kinder, eine Tochter und ein Sohn, folgen dem Beispiel des Vaters. Und auch der Schwiegersohn hat sich offenbar mit der Idee des einfachen Lebens angefreundet.

Man könnte es sich leicht machen und Schiffl einen Hippie nennen, einen Spinner, einen Esoteriker. Aber das wird diesem Mann nicht gerecht. Seine Ideen sind klar, auf überzeugende Art unfertig. Er ist kein Besserwisser, sondern sucht Antworten, fragt nach der Meinung des Gesprächspartners. Und vermittelt mit seinem Enthusiasmus eine unbändige Lebensfreude.

Ein Optimist ist er deswegen noch lange nicht: „Ich bin ziemlich sicher, dass die Erde das nicht aushält, wenn wir so weiterleben. Wenn wir tatsächlich in ein paar Jahren zehn Milliarden Menschen auf der Erde sind und jeder ein Auto will, werden wir kollabieren."

Wenn man verstehen will, wer Herbert Schiffl heute ist, gibt es noch einen anderen Weg: den Tango. Vor zwanzig Jahren hat er den Weg zurückgefunden zum Tanzen, seinem ehemaligen Broterwerb. Es spricht eine eigene Perspektive auf das menschliche Zusammensein aus dem, wie er die Vorteile des Tanzes beschreibt. „Der Standardtanz ist zu einem Wettbewerb verkommen. Es ist Paar gegen Paar. Der Tango, so wie er auf der Insel praktiziert wird, erlaubt die Freiheit zu tauschen. So kann meine Frau an einem Abend mit drei, vier oder fünf Männern

tanzen und ich wiederum mit der gleichen Anzahl Frauen."

Ein Zimmer im Untergeschoss seines Hauses, direkt unter dem Atelier seiner Frau, hat er sich zu einem Tanzstudio ausgebaut. Es ist nicht besonders viel Platz hier. Aber darum scheint es auch nicht zu gehen. Von der Decke hängen Holzbalken. Sie fungieren als Trainingsgeräte, können Laufwege markieren und dienen beim Ausprobieren neuer Figuren.

Ein paar seiner Ideen stellt er beim Interview vor. Es geht nicht nur um den Tanz selbst, sondern um das, was aus dem Tanz entstehen kann. Er redet über die Verbindung von Tanz und Fußball. Er redet über die Körperhaltung, die aus der Haltung der Füße entsteht, referiert kurz über indischen Tanz, geht über zum Tai-Chi und kommt zu einem ausgeschnittenen Zeitungsartikel über Fußball zurück.

Schiffl fängt an über die Faszien zu philosophieren, dieses den Körper stützende Gewebe. Darüber wie beim Tangotanzen, das komplett auf Improvisation beruht, die Faszien der beiden Tanzenden miteinander in Kontakt sind und die Bewegungen aufeinander abstimmen. Er scheint ein Forscher des menschlichen Wesens. Ohne sich jedoch besonders viel mit Menschen abzugeben.

Schiffl war nur noch einmal in Deutschland. Eine Woche lang, um ein paar Dinge zu regeln. „Ich spreche zu gut Deutsch", sagt er. „Ich verstehe die Impertinenzen. Wie sie sich in die Tasche lügen." Hat er nicht das gleiche Problem hier, wo es doch so viele Deutsche auf der Insel gibt? „Ich rede ja mit keinem."

Vielleicht ist er ein bisschen wie der Archiduque. Ein Aussteiger, einer, den man leicht als Verrückten abtun kann. Vielleicht ist er aber auch einen Schritt weiter als der Erzherzog. Am Ende des Films von 1983 sagt Herbert Schiffl aus dem Off: „Die Propagandisten der Schönheit Mallorcas, unter ihnen auch der Archiduque, sind paradoxerweise die Wegbereiter der Zerstörung Mallorcas. [...] Jetzt haben wir den Film gemacht und kein einziges Hotel oder Touristenviertel gezeigt. Vielleicht geschieht deswegen der Ausverkauf der Insel auch noch mal ein bisschen schneller." Es ist auch dieses Problembewusstsein, das zeigt, das Schiffl sich nicht nur die Welt geschaffen hat, wie sie ihm gefällt, sondern dass er trotz des Einsiedler­tums nicht das Gefühl für die Welt da draußen verloren hat. Er hat tausend Ideen und bleibt dennoch auf dem Boden: „Ich bin ein alter Mann", sagt er. „Ich plane höchstens zwei Monate im voraus." Er sagt das ohne Wehmut.

Herbert y el Archiduque, Sa Taronja (Carrer d´Andalusia, 23), Andratx, 20.9., 20.30 Uhr, Eintritt frei, Ausstellung Bilder von Regine Kempf ab 19 Uhr, Caixa Forum Palma (Plaça Weyler, 3), 22.9., 19 Uhr, Eintritt frei