Google Maps kennt Son Valls nicht. Man muss sich selbst seinen Weg suchen, von Felanitx kommend in Richtung Porreres, bis ein Schild auf das laut Melderegister immerhin 216 Einwohner zählende Dorf hinweist. Nach wenigen Metern taucht ein erster Sammelbriefkasten auf. Auch der Name der deutschen Innenarchitektin Heide Frank, die vor zig Jahren einen alten Eselstall liebevoll in ein bewohnbares Häuschen umbaute, ist dort zu finden - es muss wohl irgendwo in dieser Gegend liegen.

Weiter geht es an Schafherden und saftig grünen Wiesen vorbei, links und rechts der immerhin noch asphaltierten Straße tauchen ab und zu Toreinfahrten auf. Vom Dorf und seinen Bewohnern fehlt aber immer noch jede Spur. Bis wir vor einem stattlichen Anwesen, an dem eine Steintafel mit der Inschrift „Finca Son Valls" angebracht ist, auf ein junges Paar treffen: die hochschwangere Catalina Monserrat und ihren Mann Javier, Sie betreiben das dort befindliche, gleichnamige Landhotel. Es waren Catalinas Großeltern, die den kleinen agroturismo mit zehn größtenteils von Deutschen, Österreichern und Schweizern gebuchten Zimmern eröffneten. Das war 1995. Im vergangenen Jahr übergaben sie den Betrieb dann an die Enkelin und deren Gatten. „Wir wohnen aber nur während der Saison hier, im Winter sind wir in Palma", sagt Javier.

Oma Catalina Bennásar hingegen lebt seit ihrer Geburt auf der Finca Son Valls, einst ein rund 10.000 Quadratmeter großes Landgut, das um das Jahr 1470 von einer Familie Valls erworben und knapp 100 Jahre später von Bernat Valls in kleine Parzellen aufgeteilt wurde. Auf denen entstanden im Laufe der Jahrhunderte Dutzende Häuser und Höfe, die heute noch das über die ganze Fläche der einstigen possessió verstreute Dorf Son Valls bilden. Wobei der korrekte mallorquinische Ausdruck llogaret lautet, also ein Ortsteil, in diesem Fall der Gemeinde ­Felanitx.

„Ich bin in dem Haus gleich hinter der Kirche geboren", erzählt Catalina Bennásar und zeigt mit dem Finger Richtung Norden. Das imposante

Gotteshaus, das nicht zu verfehlen ist, wenn man dem Sträßlein ein paar hundert Meter weiter folgt, wurde zwischen 1944 und 1955 erbaut, beherbergt einige beeindruckende und erstaunlich gut erhaltene Fresken und bildet gewissermaßen den Ortskern von Son Valls. Der in einem Anbau untergebrachte „Teleclub", in dem sich die Bauern aus der Gegend früher zum Radiohören oder Fernsehen trafen, ist längst verwaist. „Als ich klein war, gab es hier viele Leute", erzählt Catalina Bennásar. Doch die meisten jungen seien inzwischen weggezogen, um sich Arbeit in der Bau- oder Tourismusbranche zu suchen. „Wobei von den Erben allmählich einige wieder zurückkommen. Aber die arbeiten natürlich nicht mehr in der Landwirtschaft."

Jeroni Gomila ist so ein Fall. Seine Eltern haben einen Hof in Son Valls, züchten Schafe und Hühner und verkaufen das angebaute Gemüse auf den Märkten in der Umgebung. Vor ein paar Monaten ist er mit seiner Frau Aina und den zwei kleinen Töchtern zurück aufs Land gezogen. Die kleine Finca inmitten eines großen Gartens, die einen neuen Anstrich und ein paar weitere Renovierungsarbeiten vertragen könnte, wirkt ein wenig trostlos - aber das mag am Nieselregen liegen. „Für mich war es am Anfang schon eine Umstellung", sagt Aina, die in Campos aufgewachsen ist. „Oder besser gesagt: ein Schock." Doch inzwischen habe sie sich an die Ruhe und das weitläufige Grundstück gewöhnt. „Für die Kinder ist es ideal, die spielen den ganzen Tag draußen."

Zurück an der Kirche folgen wir nun der anderen Abzweigung. An der Weggabelung steht ein weiterer Sammelbriefkasten. Die Vielfalt der dort vertretenen Nachnamen hält sich stark in Grenzen: Monserrat, Binimelis und Oliver tauchen besonders oft auf, manchmal sogar gedoppelt: Miquel Monserrat Monserrat. Ein Stück weiter die holprige Teerstraße entlang stoßen wir auf eine weit offen stehende Hofeinfahrt. In dem verwilderten Garten steht ein roter Käfer, der Schlüssel steckt. Im Gegensatz zu einem uralten Renault 4, halb von Gestrüpp überwuchert, eine Tür zur Seite wegbaumelnd, scheint der VW-Oldtimer tatsächlich noch fahrtauglich zu sein.

Auf dem Grundstück finden sich noch ein abgedecktes Motorrad, mehrere Fahrräder und Unmengen von Krempel: ­vermoderte Gartenmöbel, ausrangierter Hausrat, Kanister. Ein angeketteter Hund bellt nur zaghaft, als wir uns nähern, ein halbes Dutzend Katzen huscht um uns herum. An der Haustür baumelt ein türkischer Talisman mit der Inschrift „Allah Korusun" - „Möge Gott dich beschützen". Doch das Surren der Türglocke verhallt im Nichts.

„Da wohnt ein junger Lehrer aus Felanitx, der in Palma arbeitet und nur selten da ist", klärt Nachbarin Antònia auf. Das zwei Meter hohe Gittertor zu ihrem Anwesen öffnet sich nach Betätigen der Klingel automatisch. „Früher konnte man hier ja alles offen lassen, aber in letzter Zeit hat man sogar von Einbrüchen gehört, es ist nicht mehr so ruhig", führt die Frau offenbar als Entschuldigung für das Absperren ihres Grundstücks an. Ihre fast weißen Haaren, die karierte Schürze und die Filzpantoffel lassen Antònia Prohens Monserrat älter wirken, als sie mit ihren 69 Jahren ist.

Auf dem Hof, wo es heute noch ein paar Hühner, zwei Hunde und einen Taubenschlag gibt, lebt sie seit ihrer Hochzeit mit Salvador Binimelis Ramón. Näher gekommen sind sie sich wohl bei einem der Dorffeste, die es früher etwa zum Patrozinium auf dem Platz vor der Kirche gab, berichten die beiden. Aber man kannte sich natürlich schon zuvor. „Hier in der Gegend haben früher auch viele innerhalb derselben Familien geheiratet", erzählt Antònia. Cousins und Cousinen etwa. „Wir sind aber nicht verwandt, das sieht man ja schon an den Namen", stellt ­Salvador umgehend klar.

Die beiden haben einen Sohn groß gezogen, der heute in Felanitx lebt. Manchmal komme er am Wochenende zu Besuch. „Oder sie laden uns ein", sagt der 82-Jährige. Er setzt sich an einen alten Windows-Rechner. „Hier habe ich Fotos von unserem 14-jährigen Enkel beim Skifahren", berichtet er stolz. Die jungen Leute würden ja heutzutage viel in der Welt herumkommen. „Kein Wunder, dass ihnen nichts zum Sparen bleibt", stellt Antònia mit einem Seufzer fest. Die Zeiten hätten sich halt geändert. Und Son Valls könne ihnen nichts mehr bieten.

Früher habe es zwei Läden gegeben und sogar eine Schule, die während der zweiten spanischen Republik (1931-1936) erbaut wurde. Sie gleicht längst einer Ruine. Ebenso wie das kleine, 1924 errichtete Kloster, dessen Ordensschwestern einst die Kinder aus dem Ort unterrichteten. Seit die letzte betagte Nonne es vor vielen Jahren verlassen hat, ist es dem Verfall preisgegeben. „Jetzt haben wir noch die Messe am Sonntagmorgen, einmal im Monat", sagt Antònia. Im Schnitt kämen 15, manchmal auch 20 Leute zusammen. „Alle in unserem Alter. Außer einer hat mal ein Kind dabei - weil er die Enkel hüten muss."