Wäre der Hund nicht gewesen, wäre Evelyn Tewes jetzt wohl Meeresbiologin. Die Preisträgerin einer von der MZ neu geschaffenen Auszeichnung (siehe Kasten) suchte als Studentin in Wien ein Thema für ihre Doktorarbeit. Ihr Professor schlug ihr vor, sich den Meeres­säugern vor der kalifornischen Küste zu widmen. Mit ihrem Hund wäre das nur schwer gegangen: Nach den US-Bestimmungen hätte er erst einmal sechs Monate in Quarantäne gemusst. Evelyn Tewes suchte sich ein anderes Thema und einen anderen Doktorvater und landete bei Hans Frey. Dem Veterinärmediziner war es in Österreich gerade gelungen, Bartgeier auszuwildern. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern und Naturschützern hatte er in den Niederlanden zudem eine Stiftung zum Schutz des Mönchsgeiers gegründet: die Black Vulture Conservation Foundation. Zu jener Zeit war dort gerade ein Hilferuf von Mallorca eingegangen: Die damals noch Secona genannte Naturschutzbehörde fragte an, ob man sie nicht bei der Rettung der letzten voltors negres auf Mallorca unterstützen könne. „Wollen Sie sich das nicht einmal anschauen?", fragte der Professor die Studentin.

Evelyn Tewes wollte. Die Tochter eines deutsch-österreichischen Gärtner-Ehepaars, die ihre Kindheit in Niedersachsen verbracht hatte, setzte im April 1987 mit der Fähre von Genua nach Palma über. Schon wenige Tage später begleitete sie, mit einem spanischen Wörterbuch in der Hand, die mallorquinischen Forstwärter zu einer Horstüberwachung bei Lluc. Sie gelangten bis an die Steilküste - und plötzlich flogen zwei der verbliebenen Mönchsgeier in Augenhöhe und nur wenigen Metern Entfernung an der jungen Biologin vorbei.

„Sie schauten mich direkt an", erinnert sich Evelyn Tewes. Wäre man weniger nüchtern veranlagt als sie, könnte man sagen: Es waren die Tiere selbst, die Evelyn Tewes zu ihrer Rettung auserkoren. In Zusammenarbeit mit der Secona entwarf die Österreicherin ein Programm zum Wiederaufbau der bis auf 19 Tiere und ein Brutpaar geschrumpften Mönchsgeier-Population. Evelyn Tewes holte sich dafür Verstärkung: Ein schon etwa 40 Jahre alter und irrtümlich Gretl genanntes Mönchsgeier-Männchen aus dem Tiergarten Schönbrunn in Wien, das wegen einer sogenannten Fehlprägung die Menschen - und nicht andere Geier - als seine Artgenossen ansah. Nach und nach gewann sie das Vertrauen von Gretl, baute mit ihm zusammen ein Nest, jubelte ihm ein Gips-Ei unter. Bei den Mönchsgeiern ziehen Weibchen und Männchen gemeinsam den Nachwuchs groß: Die „Mutter" Evelyn weckte in Gretl seine „Vater-Instinkte". Als sie ausgeprägt genug waren, reiste das Paar nach Mallorca in einen vorbereiteten Horst, und die Biologin setzte ein aus der Tierstation Son Reus stammendes Küken zu Gretl ins Nest. Evelyn Tewes zog sich zurück, damit nicht auch dieser Vogel fehlgeprägt wurde. Gretl brachte das Junge allein durch. Pep, so sein Name, war der erste erfolgreich ausgewilderte Mönchsgeier auf Mallorca.

Eine weitere von Hans Frey mit Bartgeiern erprobte Methode bestand darin, kleine Gruppen von in europäischen Zoos geborenen Jungvögeln gemeinsam und ohne Ammenvogel in einen Horst zu setzen. Mönchsgeier sind nicht gern allein. Auf ihre neue Heimat Mallorca geprägt wurden sie erst im Alter von drei Monaten - zuvor war der Horst ihre ganze Welt. Erste Flugversuche unternehmen Geier erst mit vier Monaten.

Insgesamt ließen Tewes und ihre Mitstreiter bis 1992 mit diesen Methoden 35 Mönchsgeier frei. Das reichte, damit sich die Population langsam wieder erholen konnte. Heute sind es über 200 Vögel und 35 Brutpaare. Die mit einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern größten Greifvögel Europas sind ein häufiger Anblick in der Tramuntana.

Natürlich war es nicht Evelyn Tewes allein, die all dies vollbrachte. Da war die mallorquinische Naturschutzbehörde, und da war das internationale Netz von Wissenschaftlern, Umweltschützern, Zoos, Stiftungen. Wichtigster Geldgeber war über Jahre hinweg die Frankfurter Zoologische Gesellschaft. Die Rettung der Mönchsgeier ist auch eine Erfolgsgeschichte der europäischen Zusammenarbeit, zumal Evelyn Tewes die auf Mallorca erprobten Methoden später auch nach Frankreich und weitere Länder vermittelte. Und der Verdienst von Hunderten freiwilliger Helfer und Unterstützern, die mit ihrem Einsatz etwa bei der Horstbewachung auf Mallorca diesen Erfolg erst möglich machten und machen.

Einen dieser Helfer lernte Evelyn Tewes schon bei der zweiten Freilassung eines Mönchsgeiers 1988 kennen: Juan José Sánchez, einen gebürtigen bolivianischen Naturschützer, den es nach Mallorca verschlagen hatte. Die beiden heirateten 1992 und bekamen zwei Söhne, Samuel und Rubén. Der Mönchsgeierschutz auf Mallorca, die zugehörigen Stiftungs­konstrukte, das Besucherzentrum mit Gehege für flugunfähige Tiere in Campanet - das waren über viele Jahre hinweg der 2016 von einem Herzinfarkt niedergestreckte Juan José Sánchez und Evelyn Tewes gemeinsam.

Während die heute 54-jährige Österreicherin zeitweise im Hintergrund arbeitete, entwickelte Juan José Sánchez Kampagnen, um die durch die Auswilderungen wieder wachsende Population zu stabilisieren. Wiederholt ging es dabei um die Bekämpfung der damals noch verbreiteteren Giftköder. Zunächst waren es Bergbauern, die Schafkadaver vergifteten. Sie wollten damit aasfressende Kolkraben töten, von denen es hieß, dass sie Lämmer rissen. Dann waren es die Jäger, die Giftköder auslegten, um ihr eigens für die Jagd gezüchtetes und in der freien Wildbahn unbedarftes Niederwild vor erfahrenen Räubern wie etwa Mardern zu schützen. In beiden Fällen fielen auch Geier dem Gift zu Opfer. Die Kampagnen zeigten ebenso Wirkung wie die Verschärfung der Gesetzeslage und gelegentliche Strafanzeigen der Geierschützer.

Und da waren die Alltagsmühen des Artenschutzes, das Bangen um die Finanzierung, das Werben um Subventionen, das Betteln um Spenden. Sowohl als die Frankfurter Zoologische Gesellschaft 2002 die Unterstützung des Mönchsgeier-Projekts strich als auch während der schweren spanischen Wirtschaftskrise zwischen 2008 und 2013, als die öffentliche Unterstützung fast zum Erliegen kam, war die Lage kritisch.

Und doch ging es irgendwie weiter, auch dank des internationalen Netzwerkes.

Der Schutz der Mönchsgeier an sich ist dabei in den vergangenen Jahren ein wenig in den Hintergrund geraten: „Das können wir, da hat sich eine gewisse Routine eingespielt", sagt Evelyn Tewes. Die Ziele der Fundació Vida Silvestre de la Mediterrània, der sie vorsteht, sind heute allgemeiner gefasst: Es geht um den Schutz der Tramuntana, um die Entwicklung von Strategien, diesen einzigartigen Lebensraum auch für zukünftige Generationen zu erhalten. 2011 übertrug ein peruanisch-schweizerisches Ehepaar - die Gildemeisters - der Stiftung ihr etwa 1.000 Hektar großes Anwesen: Ariant bei Pollença. Der Erhalt ist eine ebenso große Herausforderung wie Chance für die derzeit insgesamt neun Mitarbeiter. Evelyn Tewes will hier ein Modell dafür entwickeln, wie die großen posse­ssions der Tramuntana mit lokalen Haustierrassen und einheimischen Obst- und Gemüsesorten bewirtschaftet werden können, ohne dass dabei Biodiversität und Kulturerbe wie der Gildemeister-Garten in Mitleidenschaft gezogen werden. Teilweise gelingt das schon, die Verluste werden nach und nach geringer. Rentabel aber ist das Projekt noch nicht, und die Stiftung ist weiterhin auf private Spenden angewiesen. Evelyn Tewes widmet dem Projekt mittlerweile einen Großteil ihrer Zeit.

Manchmal sucht Evelyn Tewes im Gespräch nach den passenden deutschen Ausdrücken, manchmal weicht sie ins Spanische aus. Sie, die Mallorquinisch versteht, aber nicht spricht, ist schon lange auf der Insel angekommen. Sie habe sich sehr schnell aufgenommen gefühlt, sagt sie. Vielleicht liegt das daran, dass Evelyn Tewes etwas für die Insel getan hat.

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