Cristóbal Serra ist der lebende Beweis für André Hellers Behauptung, dass die wahren Abenteuer im Kopf stattfinden. Man ergötzt sich an seinen verrückten Ideen, wenn er zum Beispiel ein Land erfindet, Cotiledonia, und zwei Reiseberichte darüber verfasst. Zu seinen Kreationen gehört auch die asnología, die Eselslehre. Die unorthodoxen Konstruktionen ruhen dabei auf einem soliden philosophischen Fundament. Vor kurzem hatte im Kulturzentrum Sa Nostra in Palma ein Dokumentarfilm Premiere, der dem heute 88-Jährigen gewidmet ist und denselben Titel trägt wie sein 1957 veröffentlichter Romanerstling: „Péndulo".

Serra ist ein Phänomen. Trotz prominenter Fürsprecher wie dem Mexikaner Octavio Paz, und obwohl der Mallorquiner, der sein Leben lang nur auf Spanisch schrieb, als einer der bedeutendsten Autoren des Landes gilt, hat er es nie über den Rang eines Geheimtipps hinausgebracht. Akademiker und Kenner verehren ihn, doch die zahlreichen Bücher dieses „Eremiten von Palma", wie Paz ihn nannte, kommen bei kleinen Verlagen heraus. Die Balearen-Uni verlieh ihm 2006 einen Ehrendoktortitel, er machte einen Tag lang Schlagzeilen, doch dann verkroch er sich wieder in seine von Büchern überquellende Wohnung in Palma, um zu tun, was der bescheidene Serra, der nie heiratete und keine Nachkommen hat, ein Leben lang am liebsten tat: lesen und Gedanken stricken.

Über ein Thema hat er nach eigenem Bekunden mehr und länger nachgedacht als über irgendein anderes: Esel. Seine asnología müsse eigentlich ein Pflichtfach in jeder Uni sein, meint er, denn der Esel repräsentiere den Gipfel der Weisheit. In seinem Buch „El asno inverosímil" (Der unwahrscheinliche Esel) zäumt Serra die ganze Weltgeschichte an diesem Tier auf, entwirft ein philosophisches Gebäude mit Riesen­ohren und ortet – ein bisschen wie Dan Brown, nur verrückter – die Symbole seines intellektuellen Wappentiers auf allen Bühnen der Weltgeschichte. Der Kopfschmuck der ägyptischen Herrscher sei Eselsohren nachempfunden, auch jüdische Priester hätten sich dieses Symbols bedient, auf den Köpfen höchster Würdenträger habe sich diese Referenz auf das „weiseste Wesen des Universums" über die Jahrhunderte hinweg erhalten und ihren Weg bis auf den Kopf des Papstes gefunden: Dessen Tiara sei nichts anderes als stilisierte Eselsohren.

Als Serra diese seine Theorie im Film erläutert, bricht im Saal schallendes Gelächter aus. Es ist nicht das Lachen über einen Durchgeknallten, sondern der Genuss an einer Gedankenwelt, die sich bei aller Verrücktheit aus Wissen nährt und das aus einer definierten humanistischen Einstellung. Dieser Mann tickt anders, er nähert sich der Wahrheit und Wirklichkeit auf ungewohnten Pfaden an.

In seiner Jugend kurierte Serra in einem Haus in Port d´Andratx eine Tuberkulose aus. Eine Engländerin, deren Boot im Hafen lag, lieh ihm alle ihre Bücher – so lernte der aufgeweckte Serra Englisch, wurde zum Sprachlehrer und Übersetzer. Doch stürzte er sich immer wieder in eigene Projekte, um das angelesene Wissen zu verarbeiten und seine Sicht der Dinge darzulegen. Im Gegensatz zum klassischen Akademiker fasste er sich dabei kurz, ja machte aus der Kürze eine Prämisse, bezeichnete sich selbst als „Mikrologen" und den Aphorismus als Königs­disziplin der Literatur.

Ohne Komplexe bemüht Serra das Unglaubliche. So behauptet er, dass sich zuweilen die Geister historischer Persönlichkeiten seiner Schreibhand bemächtigen, dass Borges ihm den Satz „Die Ewigkeit ist ein Labyrinth" in die Feder diktiert und dass Kolumbus ihm mitgeteilt habe, er sei kein Mallorquiner. Auf die Frage, ob er fern­sehe, erzählte Serra einem Reporter der katalanischen Zeitung „La Van-

guardia", ihm sei schon zweimal der Apparat explodiert, seither halte er das Fernsehen für „sehr, sehr gefährlich".

Wahr oder nicht, die Anekdote ist vor allem eine Metapher. Provokant auch seine politischen Thesen. Die Basken, behauptet Serra, seien iberischer als alle Spanier zusammen, weil schon das Wort „Iberia" aus dem Baskischen stamme. Und die Aver­sion der Linken gegen die Kirche bezeichnet er, der Surrealist, der dem Papst Eselsohren aufsetzt, als „irrational": „Ich habe Respekt für die Kirche."

Keinen Respekt hat er für einen Lebensstil, der sich vor allem am Materiellen orientiert. Er wandte sich orientalischen Lehren zu und übersetzte aus dem Englischen u.a. ein Werk von Lao-Tse. Im Grunde ist Serra ein sensibler Romantiker: Port d´Andratx, den Schauplatz seiner Jugend, wo ihm „das Meer das Denken beibrachte", hat er in den vergangenen 40 Jahren kein einziges Mal besucht. Er will den Ort so im Gedächtnis behalten, wie er zu glücklichen Zeiten war.

Es war Octavio Paz, der 1961 erstmals auf Cristóbal Serra aufmerksam machte. Der Mallorquiner hatte gerade seinen ersten Roman veröffentlicht und Paz schrieb für dessen italienische Übersetzung das Vorwort. Und Paz soll auch das letzte Wort haben. Dieser Einsiedler, sagte er über Serra, verberge sich nicht in einer Höhle oder einer Burg, sondern sei von der Welt durch „Melancholie, Schüchternheit und Humor" getrennt.

Serras Bücher sind bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden. Neben den spanischen Originalversionen liegen katalanische, französische, italienische und serbische Ausgaben vor.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem:

- Juan Uslé, der spanische Star des Abstrakten

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