Der helle Raum, in dem Annie Verrinder ihre Patienten empfängt, wirkt so gar nicht wie eine Praxis. Gemütliche Sofas, warme Pastellfarben. Wer hier hinkommt, soll sich wohlfühlen und sicher. Das sei wichtig, sagt die Engländerin, „denn man ist nie verletzlicher als in dem Moment, in dem man über Sex redet“. Und genau deshalb kommen die ­Patienten: um bei der 51-Jährigen Hilfe für ein besseres Liebesleben zu suchen.

Die ersten Erfahrungen zum Thema sammelte die gelernte Krankenschwester, als sie in Großbritannien Sexualerziehung an Schulen unterrichtete. Später machte sie eine Ausbildung zur Akupunkteurin und Paartherapeutin. Sie stellte fest, dass Beziehungsprobleme und Probleme im Bett sich oft gegenseitig bedingen.

Zunächst besuchte sie Tantra-Kurse in ihrer Heimat Surrey. „Es war schrecklich. Beim Tantra muss man die Kontrolle über sich völlig aufgeben. In einer Gruppe nackter Fremder war das für mich unmöglich.“ Kurz darauf verliebte sie sich in einen 70-jährigen Deutschen. Er beschäftigte sich schon seit 30 Jahren mit Tantra und führte sie in die Atem- und Meditationstechniken ein, durch die man zum Höhepunkt kommen kann. Ein dreimonatiger Indienaufenthalt rundete ihre Erfahrungen ab. „Dort wird ­Frauen guter Sex beigebracht. Man lehrt sie, ihrem Ehemann Genuss zu verschaffen und bringt ihnen gleichzeitig bei, wie sie selbst Spaß daran haben.“

Als ihr Mann vor zwölf Jahren ein Jobangebot auf Mallorca bekam, zog die Familie mit den beiden Kindern auf die Insel. Verrinder eröffnete ihre Praxis. Sie gibt nicht nur theoretische Tipps, sondern auch ganz praktische Hilfestellungen am Körper. Einer 60-Jährigen verhalf sie unlängst zum ersten Orgasmus ihres Lebens. Der deutlich jüngere Partner der Frau hatte sie angerufen, weil er seine Freundin nicht zum Höhepunkt bringen konnte. Nach intensiven Gesprächen mit dem Paar zeigte die Therapeutin dem Mann dann ganz konkret, was zu tun ist. Über den „weltbewegenden“ multiplen Orgasmus, den ihre Tipps der Frau verschafften, freut sich Verrinder immer noch.

Die quirlige Britin berät und behandelt Paare verschiedener Nationalitäten. Auch viele Deutsche sind unter ihren Patienten. Diese seien im Vergleich zu den Briten besonders offen und unkompliziert. „Da kommt auch schon mal einer und sagt: ‚Ich würde gerne mal spanking ­ausprobieren‘ (schlagen auf den Po, Anm.d.Red.). Das würde einem Engländer nie über die Lippen kommen!“ Für ihre Landsleute sei Sex nach wie vor etwas „Unanständiges“. Bei einem Vortrag über Orgasmus und Kommunikation, den sie im März auf einer Konferenz zum Weltfrauentag in Calvià hielt, seien die Damen im überwiegend britischen Publikum sichtlich nervös geworden. „Dabei ist Sex einfach nur wunderbar!“, weiß Anne Verrinder.

Auch Spanier finden in ihre Praxis. Und zwar in erster Linie, um ihre Ehe oder Beziehung zu retten. „Sie wollen etwas lernen, schreiben wirklich mit, was ich erkläre und fragen auch nach: ‚Wo genau soll der Finger hin?‘ Die Deutschen kommen eher aus Neugier oder Spaß am Sex.“

Dabei sei die Übersexualisierung der Gesellschaft durchaus ein Problem. „In den 50er Jahren war eine Frau im Badeanzug sexy und regte die Fantasie der Männer an. Heute brauchen viele schon einen Vierer-Porno, um überhaupt erregt zu werden.“

Frauen hätten oft ein Problem damit, sich ganz hinzugeben. Und zwar nicht im aktiven Sinn: „Sie haben kein Problem damit, ihrem Mann Lust zu verschaffen. Sie haben ein Problem damit, Lust zu empfangen.“ Manche ihrer Patientinnen würden sich schuldig fühlen, weil sie ohne langes Vorspiel nicht zum Höhepunkt gelangen. „Ein langes Vorspiel stört Männer überhaupt nicht, ganz im Gegenteil!“

Die Ursache für die mangelnde Hingabefähigkeit von Frauen liegt für Verrinder in einem falschen Selbstverständnis. Man könne keinen guten Orgasmus erreichen, wenn man das Frausein nicht genieße. Als Beispiel nennt sie das Verhalten junger Mädchen im britischen Ferienort Magaluf: „Sie kleiden sich sehr sexy, aber sie geben sich in ihrer Sexualität männlich-derb statt weiblich-sinnlich. Das ist komplett unwirklich, wie im Film.“

Oft steckten aber auch medizinische Gründe hinter sexuellen Problemen, etwa Erektionsschwierigkeiten nach einer Prostata-Operation. Die Therapeutin vermittelt dann den Betroffenen, dass dies weder das Ende der Welt noch das Ende ihres Sexlebens bedeuten muss. Massagetechniken können sowohl der Frau als auch dem Mann trotz fehlender Erektion zu einem lustvollen Miteinander verhelfen.

Die goldene Regel, um Probleme im Schlafzimmer zu vermeiden, laute schlicht und einfach, miteinander zu reden. „Lernen Sie, offen über Sex zu sprechen. Das ist die halbe Miete.“ Ebenfalls unverzichtbar: die Erforschung des eigenen Körpers. „Wenn wir nicht wissen, was uns selbst gefällt, können wir dem Partner auch nicht mitteilen, was wir wollen.“ Scham und Schuldgefühle hätten im Bett nichts zu suchen. Frauen rät sie, spontaner zu sein. Ein Quickie auf dem Küchentisch zur Mittagszeit mache Spaß. „Da kichern Sie noch Stunden später, wenn Sie daran

denken.“

Nicht ganz so witzig fanden Verrinders Kinder den Job der Mutter. „Es war nicht leicht für sie, dass Mama immer über Sex redete“, gesteht die Therapeutin. Heute hinterfragt sie auch, ob sie sich ihnen gegenüber richtig verhalten hat. „Ich dachte, wenn ich mit ihnen offen über Sex rede, würden sie auch offen mit dem Thema umgehen.“ Doch gerade im Teenager-Alter seien Sohn und Tochter davon nur peinlich berührt gewesen. Heute sind die beiden Mitte zwanzig und gehen entspannter mit dem Beruf der Mutter um. Vom Vater ihrer Kinder hat sie sich mittlerweile getrennt. Seit vier Jahren lebt sie mit einem elf Jahre jüngeren Spanier zusammen. Der Beamte der Guardia Civil ist von ihrem Job begeistert: „Er nennt mich ‚mein persönlicher Guru‘“, sagt die Therapeutin lachend.

Dass Anne Verrinder mit der Akupunktur ein zweites Standbein hat, hilft ihr momentan sehr. In letzter Zeit ist die Sextherapie weniger gefragt. Und das aus einem ganz einfachen Grund: In Krisenzeiten stehen ganz andere Ausgaben im Vordergrund. Verrinder versteht das, gibt aber zu Bedenken, dass guter Sex gerade in der Krise ein Genuss sei, der kaum etwas koste - „außer dem Geld für Kondome“.

Kontakt Annie Verrinder: acunovamallorca@gmail.com

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