Es war am 27. Januar 1964, als Tommy und Hilda mit ihrem Auto von Camp de Mar nach Felanitx aufbrachen. Dort wollte der 55-jährige Tomás Harris, genannt Tommy, Keramikobjekte zum Brennen geben. Auf dem Weg machte das Paar in Palma halt und aß zusammen mit Robert Graves in einem Restaurant zu Mittag. Der britische Schriftsteller, der sich im Bergdorf Deià niedergelassen hatte, dürfte, abgesehen von Hilda, Tommy als Letzter lebend gesehen haben. Bei der Weiterfahrt auf der Landstraße Llucmajor kam der Citroën auf gerader Strecke von der Fahrbahn ab und rammte einen Mandelbaum. Der Kunsthändler, Künstler und Spion, der entscheidend zum Gelingen des D-Day und damit zur endgültigen Niederlage des Nazi-Regimes beigetragen hatte, war praktisch auf der Stelle tot.

„Tommy kannte den Baum, den er rammte, ganz genau, er hatte ihn mehrfach gemalt“, sagt Pedro de Montaner. Der Historiker und pensionierte Leiter von Palmas Stadtarchiv hat jetzt die erste Biografie über Tomás Harris vorgelegt. Dem britischen Spion nähert er sich dabei auf Umwegen, beschreibt vor allem das Netzwerk aus Familie, Freunden und Bekannten, in dem er verkehrte. Montaner verliert sich dabei in Details, ordnet aber auch ein, was man heute sicher weiß – oder welche Theorien über Leben und Tod von Harris plausibel sind. „Er war eine so schillernde Person, dass man nichts mit Sicherheit ausschließen kann“, sagt der Autor im Gespräch mit der MZ. Das gelte auch für die Spekulationen, dass der Spion gar die Seiten gewechselt und für Moskau gearbeitet habe. War der Unfall auf Mallorca also wirklich ein Unfall?

Stelldichein der Spione

Der 1908 in Hampstead geborene Harris war Sohn eines Briten und einer Spanierin. Von seinem Vater übernahm er ein Antiquariat in London und entwickelte als Experte für Greco und Goya ein Gespür für den Handel mit den Schätzen spanischer Adelsfamilien. Zusammen mit seiner Frau Hilda gab er legendäre Dinnerpartys, um die herum ein Netzwerk von Kunstliebhabern sowie auch Spionen entstand – zwei Welten, die untrennbar miteinander verbunden gewesen seien, so Montaner: Bei mitunter spanischen Spezialitäten gab sich die Crème de la Crème der Spionage und der Gegenspionage, der Welt der Antiquitäten und der Kunst ein Stelldichein.

In diesem Umfeld und unter Vermittlung seines Agentenfreundes Kim Philby landete Harris 1941 in der Iberian Section des britischen Geheimdienstes MI 5 und tat in Portugal Joan Pujol auf – Deckname Garbo. Der Doppelagent spielte dem Nazi-Regime falsche Informationen über britische Truppenbewegungen zu, vor allem bei einem groß angelegten Täuschungsmanöver der Alliierten, bei dem die Wehrmacht über Zeitpunkt und Ort der Landung in der Normandie in die Irre geführt wurde. „Garbo, das war nicht nur Pujol, sondern eine Kreatur von Pujol und Tommy“, analysiert Montaner. „Ohne Tommy wäre Garbo nie zu Garbo geworden.“

"Flucht" nach Mallorca

Der britische Agent ließ ihn nach Kriegsende erfolgreich auch wieder „verschwinden“, machte glauben, Pujol sei in Angola gestorben, während er in Wahrheit in Venezuela untertauchte. Auch Harris ging auf Abstand, verkaufte seinen Antiquitätenhandel in London und zog mit Hilda nach Spanien, nach einer Zwischenstation in Málaga schließlich nach Mallorca, wo er 1949 ein Anwesen in Camp de Mar erwarb. Hier arbeitete er als Künstler und ging ein monumentales Werk über Goya an. Es sei eine Flucht gewesen, so der Biograf, Harris habe sich von allen Seiten bedroht gefühlt.

Anfang der 1950er-Jahre dann der Skandal: Die britischen Diplomaten Donald Maclean und Guy Burgess wurden als Maulwürfe des russischen Geheimdienstes enttarnt und flüchteten in die Sowjetunion, 1963 folgte ihnen Harris’ enger Freund Kim Philby. Und auch der befreundete Kunsthistoriker Anthony Blunt sollte später, nach dem Autounfall bei Llucmajor, ein Geständnis ablegen.

War Tommy der Fünfte im Bunde, ein weiterer Spion in Diensten Moskaus? Die Liste der Indizien und Verdächtigungen ist lang. War sein Tod in Wirklichkeit ein Attentat des KGB, um Enthüllungen zu verhindern? Manipulierte jemand die Bremsen des Fahrzeugs? Wurde es von der Fahrbahn abgedrängt? Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Aussagen, die Harris entlasten: Er habe nicht mit den Überläufern unter einer Decke gesteckt, sondern sei fürchterlich enttäuscht gewesen von seinen Freunden. „Im Prinzip muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass Tommy ungerechtfertigterweise als sowjetischer Spion bezeichnet wurde“, urteilt Montaner.

Alkohol und Medikamente

Der Autor bringt andere Aspekte ins Spiel. Tommy trank viel, in der Villa in Camp de Mar wurde viel gestritten, seine Frau fühlte sich einsam auf Mallorca. Alkohol floss wohl auch beim letzten Mittagessen mit Graves, Harris nahm zudem starke Medikamente. Seine Frau Hilda berichtete nach dem Unfall gegenüber einem Freund, dass ihr Mann äußerst riskant gefahren sei. Ohne Erfolg habe sie auf ihn eingeredet, dass er nicht rasen solle. Für Montaner ist der Unfalltod somit eine plausible Erklärung – und doch setzt er ein Fragezeichen. Warum notierte Graves nichts darüber in seinem ansonsten penibel geführten Tagebuch?

Neue Erkenntnisse liefern in Zukunft womöglich Geheimdienstdokumente, die erst noch freigegeben werden müssen. Auch wenn Harris nichts mehr mit dem MI 5 zu tun haben wollte, auch wenn er niemals die Seiten gewechselt haben mag, sei er doch nie von der Welt der Spione losgekommen, so Montaner. Tomás Harris sei am Ende nicht mehr er selbst gewesen, paranoid, selbstmordgefährdet. „Er wusste viel, er wusste zu viel. Und er wusste, dass er zu viel wusste.“