Mallorca Zeitung

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Nadal Suau Autor

Warum Tattoos einem Essayisten von Mallorca viel über unseren Umgang mit der Zeit gelehrt haben

Josep Maria Nadal Suau widmet sich in seinem neuen, preisgekrönten Buch den Tätowierungen – und was sie uns über das Leben erzählen

Vom Persönlichen zum Kollektiv: Nadal Suau liebt selbst Tätowierungen. FOTO: A. GARCÍA

Es gibt einen etwa 18-sekündigen Song von Mark Drizzle, mit dem in letzter Zeit gerne Tiktok-Videos und Instagram-Reels unterlegt werden. Die kleine Pop-Punk-Nummer beantwortet die Frage: Was bedeuten deine Tattoos? „Dies hier bedeutet, dass ich dachte, dass es cool aussieht. Dies hier bedeutet, dass ich 200 Dollar hatte und mich niemand aufgehalten hat – und dass ich dachte, dass es cool aussah.“ So einfach, so simpel.

In gewisser Weise findet man diese Antwort auch im neuen Buch des mallorquinischen Autoren Josep Maria Nadal Suau. Nach seinen Büchern über die Stadt Palma und seine (mittlerweile geschiedene) Ehe, widmet er sich in „Curar la piel“ (zu Deutsch: die Haut heilen) den zahlreichen Tattoos, die seinen Körper prägen. Schon relativ am Anfang erklärt er: „Warum lasse ich mich tätowieren? Die kurze Antwort lautet: Weil ich es liebe.“ Die lange Antwort findet sich auf den knapp 200 Seiten, für die der 43-Jährige kürzlich den renommierten Anagrama-Essaypreis bekommen hat.

Sie waren Mitte 30, als Sie Ihr erstes Tattoo haben stechen lassen. Wie lange hat es gebraucht, dass Ihnen klar war, dass Sie darüber schreiben wollten?

Für mich war das ein ganz natürlicher Vorgang. Ich schreibe über Dinge, die ich erlebe. Natürlich habe ich nicht nach meinem ersten Tattoo gedacht, dass ich ein Buch schreiben muss. Aber je mehr Tattoos man hat, desto mehr fallen einem Dynamiken auf. Wem beispielsweise gefallen sie? Wer lehnt sie ab und warum? Man führt Gespräche mit anderen Menschen, die tätowiert sind und erzählt einander, warum man es macht, welches Verhältnis wir zu unserem Körper haben. Es ist ein unerschöpflicher Quell an Ideen. Zudem: Ich habe kein anderes Buch gefunden, das diese Themen auf diese Weise behandelt.

In der Tat: Das Buch ist anders als die meisten Bücher, die es über Tätowierungen gibt. Es gibt kein einziges Foto. Es erzählt nur in Bruchstücken von der Geschichte der Tattoos. Vielmehr ist es eine sehr persönliche, in Teilen hochphilosophische Auseinandersetzung mit einer Leidenschaft. Und ein Werk, in dem Nadal Suau den Tod seines Vaters verarbeitet, der übrigens kein großer Fan der Körperkunst des Sohnes war.

An manchen Stellen hat man das Gefühl, Sie wollten sich dafür rechtfertigen, dass Sie sich tätowiert haben.

(lacht) Ich muss lachen, weil das ein Punkt war, den meine Freunde angemerkt haben, denen ich das Buch vor der Veröffentlichung zum Lesen gegeben hatte. Ich dachte, ich hätte all diese Stellen gestrichen. Offenbar hat es nicht geklappt. Aber im Ernst: Ich glaube nicht, dass ich mich rechtfertige. Es geht mir darum, dass mich der Leser versteht und meine Argumentation nachvollzieht. Etwa wenn ich über die Gentrifizierung der Tätowierungen spreche. Denn ja, vielleicht bin ich jemand, der Tattoos gentrifiziert. Ich bin kein Zuhälter, kein Seemann – ich bin kein Teil jener Gruppen, die Tattoos hatten, als die Mittelschicht nichts damit zu tun haben wollte.

Ich dachte vor allem an die Gespräche mit ihrem Vater, der Ihre Tattoos ablehnt und bissige Kommentare macht.

Nun, ich habe immer gerne über meinen Vater geschrieben, als sarkastischen, aber wohlwollenden Gegenspieler, der mir über den Rücken schaut. In diesem Fall repräsentiert er diejenigen, die keine Tattoos mögen, ohne jedoch allzu negativ zu werden.

An einer Stelle sagt ihr Vater: „Mit den Tattoos hast du deine Zugehörigkeit zur Insel aufgegeben.“ Ist das heute noch so? Widersprechen Tattoos dem Drang der Mallorquiner, bloß nicht aufzufallen?

Aus seiner Perspektive kann ich es verstehen. Er war ein Mann, der manchmal auf die Briefkästen oder Klingeln schaute und sagte: „Es ist kaum noch jemand da, der nur mallorquinische Nachnamen hat.“ Nicht, dass er ein Problem mit Leuten von außerhalb hatte. Aber ob man Mallorquiner war oder nicht, wurde zur Kenntnis genommen. Ob das heute noch so streng ist, weiß ich nicht. Aber es gibt kulturelle Charakteristika, die schwer aufzubrechen sind. Meine Freundin ist aus Málaga und sieht die Mallorquiner immer noch als sehr verschlossen an. Ich schätze diese Eigenschaft nicht so sehr, für sie ist es ein schöner Kontrast zu den Menschen in ihrer Heimat.

Ihr Buch ist, wie Ihre anderen auch, sehr persönlich. Wo setzen Sie die Grenzen, was Sie erzählen und was nicht?

Egal, ob es um den Tourismus in Palma, meine Paarbeziehung oder Tattoos geht: Ich nehme mich eines Themas an, um anhand dessen etwas Größeres zu erzählen. Die persönlichen Aspekte verfolgen dabei das Ziel, Rückschlüsse auf das Kollektiv zu ziehen.

Buchcover von "Curar la piel" Anagrama

Was haben Sie beim Schreiben von „Curar la piel“ über unsere Gesellschaft gelernt?

Ich habe viel über unser Verhältnis zur Zeit gelernt. Zum einen über unsere Sterblichkeit und in welcher Form wir Erinnerungen wahren. Zum anderen über die Geschwindigkeit, mit der wir leben. Es ist absurd, welchem Druck wir ausgesetzt sind. Tattoos lehren einen viel über die Zeit. Allein der Aspekt, dass man sich etwas macht, was „für immer“ ist. Warum sollten wir nicht etwas wollen, das für immer ist? Zum anderen, weil die Sitzungen, bei denen man tätowiert wird, immer ewig lange dauern. Ich schätze diese Langsamkeit.

Gibt es Parallelen zum Schreiben eines Buches?

Für mich ja. Es sind zwei Disziplinen, die sehr gegen den Rhythmus der Zeit gehen. Und beide geben unserer Existenz einen Sinn. Auch wenn sie eigentlich so klein und unbedeutend sind, wenn man es nüchtern betrachtet. Aber aus dem gleichen Grund machen wir Musik oder lieben andere Menschen, glaube ich.

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Eindrücke vom Tattoo-Festival in Santa Ponça

Am Ende des Buches führen Sie alle Aspekte zusammen: die Geschichte Ihres Vaters, die Tattoos, den Aspekt der Zeit. Und wir kommen zu dem Schluss, dass „für immer“ ja auch eher relativ ist.

Das Leben ist ein Tanz zwischen Veränderung und Erinnerung. Allein beim Tattoo: Die Farben gehen mit der Zeit verloren, die Linien verblassen. Die Bedeutung, die es für einen hat, verändert sich im Laufe des Lebens. Es ist wie mit den Erinnerungen, die sich ja auch mit der Zeit verändern. Und klar, natürlich ist nichts für immer, weil wir sterben. Aber es geht doch darum, das Gefühl zu haben, dass es doch etwas gibt, das für immer ist.

Haben alle Tattoos eine Bedeutung oder lautet die Begründung manchmal einfach, dass man 200 Dollar hatte?

Man kann die Kritiker von Tattoos of t besänftigen, indem man sagt: Das Tattoo erinnert mich an meine Oma. Oder an meine Hochzeit. Dann wird das irgendwie akzeptabler. Ein paar abstrakte Linien sind schwerer zu akzeptieren. Aber ja, es hat eine Bedeutung, dass man sich tätowiert. Selbst wenn es nur darum geht, dass man gerade 200 Dollar hatte, wie in dem Song. Auch wenn es abstrakt ist. Denn man hat sich dafür entschieden, das Geld ausgerechnet dafür auszugeben. Hier liegt die Bedeutung, die man ergründen kann.

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