Wenn den Mallorquinern in der öffentlichen Diskussion die Argumente ausgehen oder ihnen der Mund offen stehen bleibt, dann gehen sie in sich und warten ab. Irgendwann greifen sie dann zur Geheimwaffe: Mit spitzen Worten und scharfen Gedanken machen sie sich über jene lustig, die ihnen ans Eingemachte wollen. Dabei fordern sie niemanden offen heraus, alles bleibt angedeutet. Eine Regel des Zusammenlebens auf der Insel besagt nämlich, dass man sich keine Feinde schaffen solle, dafür sei Mallorca zu klein. In diesem Sinn ist die glosa, der auf Mallorquinisch gereimte, improvisierte Spottgesang, das Kernstück insularen Kommunikationsverhaltens.

Sie wird neuerdings wieder gepflegt, nach einem 50-jährigen Dornröschenschlaf. Die neuen trobadors sind um die 30, haben von der Generation ihrer Großeltern gelernt, wie man singend das Volk unterhält und die Mächtigen kritisiert, ohne dabei langweilig oder beleidigend zu werden. Wenn sie sich zu einem sogenannten combat de gloses, einem Wettstreit der Spötter, zusammentun,in einer Bar der Part Forana, in Petra, Lloret oder Sant Joan zum Beispiel, dann zeigen sie dem Publikum, wie viel Sinn für Ironie und Sarkasmus die Mallorquiner haben und wie wortgewandt und scharfsinnig sie sein können.

Ihren Spott kleiden sie in siebensilbige Verse, die sich nach dem Schema a-b-b-a reimen und über mindestens vier, höchstens vierzehn Zeilen laufen. Die Melodie ist dabei nicht das tragenden Element: Bei den gloses geht es darum, die Aktualität in griffigen Worten zu kommentieren, ganz ohne Vorbereitung und in einer schnell wiedererkennbaren Tonfolge.

Wer die Kunst dieses improvisierten Spottgesanges beherrscht, wie Mateu Matas, genannt Xurí, oder Macià Ferrer, der darf sich viel erlauben: Die regionale Spar-, Sprach- und Baupolitik, Matas´ Gefängnisstrafe, Urdangarins Gerichtsprozess … alles haben sie derzeit im Visier. „Die glosa hat keine geschriebenen Regeln, es gibt keine Grenzen, nichts Verbotenes", sagt Xurí, „obwohl ein guter glosador weiß, dass er einen besseren Effekt erzielt, wenn er die Dinge indirekt ausdrückt und dem Publikum Raum zur Interpretation lässt." Die beiden haben sich in den vergangenen zwei, drei Jahren zu Stars der gloses-Szene entwickelt, die sich auch mal mit Poetry Slamern oder Rappern treffen – zwei benachbarten Formen des sprachlichen Wettstreits vor Publikum –, um gemeinsam einen Abend zu gestalten.

Vor vier Jahren gründeten Xurí und Ferrer mit rund 20 anderen den Verein Glosadors de Mallorca: Seither organisieren sie Wettgesänge, suchen und analysieren alte gloses, erklären ihre Kunst Interessierten und tauschen sich mit den Alten aus. „Glosador kann jeder werden, der ein gutes Sprachgefühl hat und ein paar Regeln beherrscht", sagt Ferrer. Und Xurí fügt an: „Gute glosadors sind wortgewandt und schnell im Denken, was sie allerdings nicht vor einem Blackout schützt." In solchen Fällen helfen Theorie und Technik, die es zur Improvisation mit Sprache gibt.

Die glosa ist eine mallorquinische Form der Dichtung, sie arbeitet mit der hiesigen Sprache. Deshalb „glossieren" ihre Vertreter die derzeit herrschende Diskussion um die freie Sprachwahl an Mallorcas Schulen (Spanisch oder Katalanisch) besonders heißblütig. Denn sie fühlen sich direkt betroffen: „Wir glosadors sind Sprachsportler", sagt Ferrer. „Wenn die Kinder in der Schule nicht mehr richtig Katalanisch lernen, dann fehlt uns bald der Nachwuchs, das ist wie beim Fußball." Momentan besteht diese Gefahr nicht. „Die Szene kocht," sagt Xurí, „die Leute wollen gloses." Er tritt nicht nur regelmäßig live gegen seinesgleichen an, sondern verteilt seine Spitzen auch via ­Facebook und in der katalanischsprachigen Tageszeitung „dbalears". Dort schreibt er auf den Meinungsseiten gereimte Kommentare zur Aktualität.

Woher die Tradition kommt, ist umstritten. Vermutlich von okzitanischen trobadors, Sängern und Dichtern, die am mittelalterlichen Hof Neuigkeiten vortrugen, oder jonglars, fahrenden Musikern, die den Analphabeten in den Dörfern singend die Welt erklärten. Tatsächlich beharren die heutigen glosadors auf dem Unterhaltungswert ihrer Auftritte, die in Zeiten von Twitter und Facebook eine neue Funktion übernehmen.

Informiert sind im Publikum alle. Was die Zuschauer suchen, ist das Live-Erlebnis, das Gefühl, einen Schaffensprozess in Echtzeit mitzuerleben und mit dem eigenen Applaus zu bewerten: Anstatt den „Gefällt mir"-Button zu aktivieren, klatschen, lachen oder pfeifen sie, wenn es einem der Wettstreiter gelungen ist, die glosa des Vorgängers mit Sprachgewalt und Geistesgegenwart zu übertrumpfen.

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