Die ersten Takte von „Paradise of Love" erklingen, und es ist wie eine Zeitreise. So zauberhaft der spanische Akzent des auf Englisch schmachtenden Sängers, so rührend die Gitarrenriffs. Was waren das für Zeiten, in der sich die Einheimischen noch so richtig freuen konnten am beginnenden ­Tourismusboom ?

Autor und Musikwissenschaftler Francesc Vicens (Jahrgang 1977) entdeckte die mallorquinischen Urlaubs-Schlager durch einen Zufall. Als seine Mutter im vergangenen Jahr ihren 60. Geburtstag feierte, brachte einer der Gäste eine Plattensammlung aus ihrer Jugend mit. „Ich kannte kein einziges Lied, aber all die anwesenden Ärzte, Anwälte und sogar Pfarrer verwandelten sich plötzlich in wild tanzende 16-Jährige – ich war fasziniert und dachte: „Was habe ich da nur verpasst." Und nachdem seine letzten Arbeiten sich mit eher ernsthaften Themen wie der Musik des Mittelalters oder dem Sibillengesang befasst hatten, gönnte er sich nun „zum Abschalten" einen wissenschaftlichen Exkurs in die Insel­musik-Szene der 60er Jahre.

Die ist durchaus eine eigene Studie wert. Als die ersten Pauschalurlauber Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre nach Mallorca fanden, wollten sie typisch Spanisches geboten bekommen. Schnell bildeten sich Bands, die genau das lieferten: Mit Flamenco und copla unterhielten die Musiker die Urlauber beim Abendessen in Restaurants oder Hotels. Zwar stammte die Musik aus dem südspanischen Andalusien, aber das war den Feriengästen egal. Sie wollten Stiere und Folklore.

Der Urlauber-Boom bot auch dem Franco-Regime ganz neue Möglichkeiten. Manuel Fraga, damals für den Tourismus zuständiger Minister, wollte Mallorca nutzen, um das negative Image der Diktatur zu brechen. Modern und aufgeschlossen wollte man wirken, heute würden man sagen: cool. Und dazu gehörte auch die Musik. Propagandistisches Vorbild war das Sanremo-Festival in ­Italien. Dort wurden europaweite Hits geboren, und so etwas wollte das Franco-Regime auch für Mallorca. Also organisierte man zwischen 1964 und 1970 das Festival Internacional de la Canción Mallorca.

Die Gewinner der ersten Ausgabe, Frida Boccara und Luis Recatero, besangen in ihrem Siegerlied „Quand Palma chantait" zwar auf Französisch die Schönheiten der Inselhauptstadt, hatten aber vor ihrem Auftritt auf dem Festival noch nie einen Fuß auf die Insel gesetzt. Die Künstler rechtfertigten das mit folgenden Worten: „Jeder kennt Palma, obwohl noch nicht jeder hier war. Von ­Fotos und aus ­Büchern oder von dem, was Freunde erzählt haben."

Und bald auch aus unzähligen Liedern. Das von Bernat Pomar komponierte „Paradise of Love" wurde ebenfalls auf dem Festival 1964 zum ersten Mal vorgestellt und entwickelte sich schnell zum Hit – erstaunlicherweise auch unter den Einheimischen, dort aber mit spanischem Text. Von dem Lied, das von den Schönheiten des Insellebens erzählt, gibt es mindestens 14 auf Vinyl gepresste, unterschiedliche Versionen.

Die Bands hatten so klingende Namen wie „Los Millonarios", „Toni y sus isleños" oder „Los Casanovas". „Jeder, der damals eine Gitarre halten konnte, gründete eine Band. Es war ein regelrechter Boom", so Vicens. Einige richteten sich ausschließlich an Urlauber, andere hingegen widmeten sich dem einheimischen Publikum. Häufig wurden dabei die Hits der Beatles oder der Rolling Stones gecovert. Viele auf der ­Insel kannten zuerst die Version mit spanischem oder katalanischem Text, bevor sie die Originale entdeckten. „Habt ihr schon gehört? Da sind so Jungs aus Liverpool, die singen das Lied von Los Javaloyas!"

Jenseits dieser Coverversionen entstanden aber auch Schlager, die sich unmittelbar mit dem Tourismus beschäftigten. „Los Dodger´s" gewannen das mallorquinische Musik-Festival 1967 mit ihrem Lied „El turista 1.999.999". Auf durchaus ironische Weise besang die Band, wie sich besagter Tourist darüber ärgert, nicht der zweimillionste gewesen zu sein: Dem nämlich wurde am Ende der Flugzeug-Gangway ein feierlicher Empfang inklusive Geschenk zuteil.

Hits wie „Adiós, linda Candy" oder „Dime que volverás" beschrieben hingegen traurige Abschiedszenen am Flughafen und setzten damit der Figur des „picadors" ein Denkmal. Die „picadors" sind eigentlich die Zureiter beim Stierkampf, auf Mallorca jagten sie aber keine Stiere, sondern blonde Schwedinnen. Einfache Dorfjungs, so erzählt Vicens, zogen sich an wie James Dean und eroberten auf ihren Motorrollern Touristinnen. Diese waren so freizügig und aufgeschlossen, dass die einheimischen Mädchen schlagartig uninteressant wurden.

Der Kontakt zu jungen Leuten aus den liberaleren Ländern Nord- und Mitteleuropas führte dabei auch zu Generationen­konflikten auf der damals noch sehr konservativen und ländlich geprägten Insel: Die Alten waren von den neuen Sitten und Gebräuchen entsetzt, die Jugend hingegen begeistert. „Die Pop-Kultur hat viel zur Öffnung der geschlossenen Insel­gesellschaft beigetragen, und zwar im ökonomischen wie auch im kulturellen Sinn", sagt Francesc Vicens.

„Paradise of Love o L´illa imaginada", Francesc Vicens, Edicions Documenta Balear. Buch (auf Katalanisch) und Begleit-CD 32 Euro.

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