Bevor Antònia Vicens auf die schattige Terrasse ihres Hauses in El Terreno, Palma, tritt, kündigt ein Hund ihr Kommen an. Ein flinker Jack-Russell-Mischling kommt die Treppe heruntergeflitzt. „Lord! Lord!", ruft sie ihn entrüstet zu sich. Während des Interviews wuselt er zwischen seinem Platz auf dem weißen Sofa und dem gläsernen Couchtisch umher. Vicens (Santanyí, 1941) strahlt für ihre 77 Jahre eine ähnliche Frische aus. Nachdem sie ihre getönte Brille abgenommen hat, zeigt sich ihr wacher Blick. Durch diese Augen beobachtet Vicens schon seit ihrer Kindheit aufmerksam das Leben um sich herum und schreibt es in bildhaften, lebendigen Worten nieder. Das meiste hat sie sich selber beigebracht, zur Schule ging sie nur bis zu ihrem 14. Lebensjahr. Mit ihrem Debütroman „39º a l'ombra" gewann sie 1968 den renommierten Sant Jordi Preis für katalanische Literatur. Vor zehn Jahren hat sie sich zum ersten Mal der Poesie angenommen, Ende 2017 veröffentlichte sie den Gedichtband „Tots els cavalls".

Ihr erster Roman „39 Grad im Schatten" beschreibt die Anfänge des Tourismus auf Mallorca.

Ja, die Hoteliers waren mir nach der Veröffentlichung sehr böse, weil ich die negativen Aspekte beschrieb: Damals schon kamen Ausländer, um sich zu betrinken. Man baute sehr schnell Hotels und ohne Regeln auf Kosten der Natur. Wunderbare Orte verschwanden. Leute vom Land verließen ihre Heimat, um in der Gastronomie zu arbeiten. Die katalanische Kultur war im Rückzug, weil vom Festland arme Leute zum Arbeiten kamen, die kein Mallorquin konnten - ein schlauer Zug des Franco-Regimes. Heute hat sich nichts geändert, man beutet die Natur und die Menschen weiterhin aus.

Wie nahmen Sie die Touristen wahr?

Viele, vor allem die Deutschen, brachten viel Schmerz mit. Ich hörte viele traurige Geschichten, vom Krieg. Es waren keine glücklichen Menschen. Sie kamen auf der Suche nach einem Stück Paradies hierher, um zu trinken und zu vergessen. Das hat sich heute geändert.

Wann fingen Sie an, im Hotel zu arbeiten?

Da muss ich 21 oder 22 Jahre alt gewesen sein. Ich erstickte im Dorf. Als ich mit einer Freundin zum Arbeiten nach Cala D'Or gingen, nannten sie uns Nutten und alles Mögliche. Es war nicht normal, als Frau arbeiten zu gehen. Die Öffnung durch den Tourismus war da sehr wichtig. Als das Buch veröffentlicht wurde, war ich 26 Jahre alt. Ich war nicht vorbereitet gewesen, um alles zu verstehen, was ich erleben würde, aber ich hatte inzwischen vieles gesehen und dachte, ich habe wunderbares Material. Ich wollte das Dorfleben, meine katholische Erziehung, die Nachkriegszeit mit der Öffnung, die der Tourismus mit sich brachte, kontrastieren.

Wie kamen Sie damals darauf, Santanyí zu verlassen, in so einem konservativen Umfeld?

Das ist etwas, das mit mir geboren wurde. In der Schule erzog man uns zu Gehorsam gegenüber der Kirche, Vater und Mutter. Ich sah die jungen Frauen, wie sie heirateten, sich die Haare abschnitten und mit 20 schon lebten wie alte Frauen. Das wollte ich auf keinen Fall.

Als Sie Ihr erstes Buch veröffentlichten, hatte Katalan noch lange nicht den Status, den es heute hat.

In der Schule war alles auf Spanisch. Man nahm Katalan nicht als Sprache wahr. Aber sie hatten den Pausenhof vergessen! Da war alles auf Mallorquin. Beim Schreiben habe ich nie auf Regeln geachtet; du musst dich ausdrücken können. Ich versuche, die Sprache von hier nicht zu vergessen, das Leiden darin. Das Meer ist sehr schön, aber es ist voller Ertrunkener. Für mich gab es immer diese Barriere des Meeres. Und ich sah Boote hinausfahren, die nicht zurückkamen. Heute haben wir das gleiche Drama mit den Flüchtlingen. Deswegen sehe ich im Meer auch dieses Schreckliche.

Sind Sie eine melancholische Person?

Eher besorgt als melancholisch. Ich schreibe, um zu verstehen, aber ich verstehe gar nichts. Ich will durch Worte begreifen, aber die Wörter haben mich enttäuscht.

Warum haben Sie erst so spät Gedichte veröffentlicht?

Ich hatte nie Poesie geschrieben. Aber am 3. August 2006, ich saß dort draußen (Sie zeigt aus dem Fenster auf ihre Terrasse, Anm. d. Red.), begannen die Verse mir wie zuzufallen. Ich sah sie vor mir und schrieb alles auf. Mein Vater war drei Jahre zuvor gestorben, mit 93 Jahren, und ich hatte nicht geweint. Das war eine Form der Verarbeitung.

Können Sie bei Gedichten kreativer sein?

Nein, du musst das genaueste Wort finden, das ist immer schwer. Es müssen Wörter sein, die mehr suggerieren. Das ist nicht einfach. Ich kann wie automatisch schreiben, aber die Korrektur danach kann Jahre dauern.

Sind neue Veröffentlichungen geplant?

2020 wird ein neues Gedicht kommen. Ich habe einen Roman, den ich liegen gelassen hatte, vielleicht schreibe ich daran weiter. Aber ich möchte mich nicht fühlen, als wäre das Arbeit. Schreiben war für mich immer Freiheit und das ist es immer noch.