Am 11. November 1933 ging im Hafen von Palma ein Mann an Land, der wenige Jahre zuvor noch zu den großen, schillernden Gestalten des deutschen und europäischen Kulturlebens gehört hatte. Es war Harry Graf Kessler, geboren 1868 in Paris, Sohn eines Hamburger Bankiers und einer irischen Baronesse. Dass er ein unehelicher Sohn Kaiser Wilhelms I. sei, bestritt er Zeit seines Lebens aufs Entschiedenste. Aufgewachsen war er in Frankreich, England und Deutschland, 1879 wurde er in den erblichen Adelsstand und 1881 in den Grafenstand erhoben. Harry Graf Kessler: Kunstsammler, Museumsdirektor und Mäzen im Kaiserreich, Diplomat und Politiker im ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, Literat und Publizist, nach Kriegsende auch überzeugter Pazifist.

Die Umstände seiner Flucht aus Deutschland lesen sich in Albert Vigoleis Thelens Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ wie ein Abenteuer. Er habe in Berlin im Hotel Adlon Gespräche geführt, als ein Kellner die Runde mit der Nachricht vom Reichstagsbrand unterbrach. „Jemand fasste Kessler beim Arm und flüsterte ihm zu, nun werde es für ihn höchste Zeit, die Koffer zu packen und nach England oder Frankreich zu ziehen.“ Kessler sei noch nicht einmal mehr in seine Wohnung gegangen, sondern habe den nächsten Zug nach Paris genommen: „Sein Kopf stand auf der Liste derjenigen Persönlichkeiten, die umgebracht werden sollten, wenn die Nazis ein kommunistisches Attentat auf den Führer inszenieren würden.“

Diese Version darf getrost ins Reich der Dichtung verbannt werden. Kesslers Schwester, Wilma de Brion, verwies darauf, dass ihr Bruder Deutschland nicht nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933, sondern erst nach der Reichstagswahl im März 1933 verlassen habe. Dies bestätigt auch ein Tagebucheintrag Kesslers, der als Abreisetag den 8. März vermerkt. Dass der Graf nie wieder in seine Heimat zurückkehren sollte, war ein Gedanke, der lange Zeit außerhalb seines Vorstellungsvermögens lag. Zwar lehnte Kessler den Nationalsozialismus entschieden ab. 1930 notierte er in seinem Tagebuch: „Der Ekel überkommt einen vor so viel verbohrter Dummheit und Bosheit.“ Auch hatte er den Künstler John Heartfield finanziell unterstützt, damit dieser sein Plakat „Adolf, der Übermensch, schluckt Gold und redet Blech“ drucken und verbreiten lassen konnte. Und zusammen mit Schriftstellern wie Klaus Mann und Erich Kästner sprach er sich öffentlich gegen den erstarkenden Militarismus im Deutschen Reich aus. Zugleich war er jedoch davon überzeugt, dass die Nationalsozialisten, die er als „Fiebererscheinung des sterbenden deutschen kleinen Mittelstandes“ betrachtete, mit ihren Terrormethoden letztendlich am Widerstand des deutschen Volkes scheitern würden.

Einzelne Hinweise, dass es die neuen Machthaber in Deutschland nicht gerade gut mit ihm meinen könnten, nahm Kessler nicht allzu ernst. Als er im März 1933 zunächst nach Paris reiste, sei dies „höchstens als momentanes Ausweichen“ gedacht gewesen, schreibt der Historiker Peter Grupp in seiner Kessler-Biografie. Nachdem er jedoch in Frankreich vor einer baldigen Rückkehr gewarnt wurde, verwandelte sich das, was als längere Reise begonnen hatte, nach und nach in ein Exil.

Als Kessler auf Mallorca eintraf war er bereits 65 Jahre alt. Die Insel hatte er 1926 bei einer Urlaubsreise kennengelernt. Jetzt wollte er dort den Winter im milden mediterranen Klima verbringen. Und fand ein Mallorca vor, das er so nicht kannte: „Es gibt eine wahre deutsche Invasion“, schrieb er seiner Schwester wenige Tage nach seiner Ankunft. Die Deutschen ordnete er zumindest dem ersten Eindruck nach vor allem der sozialen Unterschicht zu und hielt sie „en grande partie Nazi“, zum größten Teil für Nazis. Die Vororte Palmas, so weitere Beschreibungen Kesslers, seien vor allem von deutschen Architekten in deutschem Stil gebaut, es gebe zahllose Bars, die von Deutschen betrieben würden und denen am Kurfürstendamm ziemlich ähnelten.

Auf Mallorca ließ sich Kessler in Bonanova vor den Toren Palmas nieder und widmete sich ganz seinen Memoiren. Thelen, der als sein Sekretär die korrigierten Manuskripte ins Reine schrieb, hielt in seinem Roman fest: „Graf Harry Kessler hatte sich immer tiefer in seine glorreiche Vergangenheit eingegraben; bis über die Ohren steckte er in seinen Notizen, Tagebüchern, Tausenden von Briefen, Merkzetteln, fertigen Manuskripten und solchen immerwährender wustmännischer Halbkonfektion, dass ihn kaum ein Ereignis der Gegenwart aus seinem Bau herausfretten konnte.“ Schon gar kein politisches Ereignis: Nicht unangenehm auffallen, lautete die Devise Kesslers, der sich von politischen aktiven Emigranten tunlichst fern hielt.

Für diese Zurückhaltung hatte er zwei Gründe. Zum einen wollte Kessler die Veröffentlichung seiner Memoiren „Gesichter und Zeiten“ nicht gefährden. Als eine Emigrantenzeitung in Frankreich einen Vorabdruck seiner Erinnerungen veröffentlichte, distanzierte er sich sofort in einem Schreiben an den deutschen Konsul und bat zudem den S. Fischer Verlag in Berlin, dagegen rechtlich vorzugehen. Damit konnte er jedoch nicht verhindern, dass seine Publikationen daheim im Reich auf die Liste des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt wurden. Wegen seiner politischen Betätigung in der Weimarer Republik hatten die Nazis den Grafen auf den Index gesetzt und ließen ihn auch im Ausland überwachen, fragten beim deutschen Konsulat an, ob sich Kessler auf Mallorca „deutschfeindlich“ verhalte. Trotz Mitteilung des Konsuls, dass Kessler politisch nicht in Erscheinung getreten sei, blieb es bei dem Veröffentlichungsverbot.

Ein weiterer Grund für die politische Zurückhaltung Kesslers war der Umstand, dass er nach Angaben seines Biografen Grupp es bis mindestens Ende 1935 nicht ausschloss, nach Deutschland zurückzukehren, um seinen Besitz zu retten. Da am Anfang seines Exils eine vermeintliche Reise stand, hatte Kessler keine Vorkehrungen getroffen, seine Besitztümer in Berlin und Weimar zu verwalten. Er hatte weder Anordnungen gegeben noch Vollmachten erteilt. Die Folge: Bei Personal, Handwerkern und Lieferanten, aber auch bei den Finanzämtern liefen Schulden auf, die durch Beschlagnahmungen und Zwangsversteigerungen beglichen wurden.

Dies und das Veröffentlichungsverbot in Deutschland führten dazu, dass der Mann, der einst Künstler und Schriftsteller förderte und in vielen Salons verkehrte, nun das war, was man heute einen Sozialfall nennen würde: Ab Ende 1933 lebte Kessler fast ausschließlich von den Zuwendungen seiner Schwester. Bereits 1929, nach dem Tod von Gustav Stresemann, hatte er in seinem Tagebuch notiert: „Ein Stück nach dem anderen der Welt, wie sie für mich und meine Generation war, verschwindet.“ Im Exil hatte sich diese Erfahrung auf erdrückende Weise verstärkt. Da war es nur noch ein schwacher Abglanz seiner vergangenen Tage, dass er im April 1935 eine Ausstellung in der Galería Costa in Palma mitorganisierte, bei der die Kunstdruckbücher seiner Cranachpresse gezeigt wurden und er noch einmal in den Mittelpunkt des kulturellen Geschehens rückte. Seiner Schwester berichtete er gleichwohl stolz, dass der Bürgermeister bei der Vernissage anwesend gewesen sei und der Gouverneur und der Bischof Vertreter entsandt hätten.

Ein Abglanz früherer Tage war auch seine Teilnahme an Vorträgen des zwölf Jahre jüngeren Philosophen Hermann Graf Keyserling, der im Nazi-Deutschland zunächst Rede- und Ausreiseverbot hatte, das dann aber gelockert wurde. Diese Auftritte wurden vom deutschen Konsulat im Auftrag des Auswärtigen Amtes mit Argusaugen beobachtet: „Das Publikum und die Presse sprach sich begeistert über Keyserling aus. Anbei übersende ich ergebenst eine Anzahl Zeitungsausschnitte, die die Vorträge behandeln“, erstattete der deutsche Konsul Hans Dede Bericht an den Generalkonsul in Barcelona. Auch die Absicht Kesslers, „demnächst einen kulturellen Vortrag hier zu halten“, wurde an die vorgesetzte Behörde weitergetragen.

In „Insel des zweiten Gesichts“ verdichtet Albert Vigoleis Thelen die Treffen der beiden Grafen zu einem einzigen Ereignis, das er satirisch schildert: „Hermann gründelte nicht, er tauchte. Geheimnisse der Tiefsee, Fische mit Rückstrahler, Lanzett- augen, Leuchtquallen, Meerungeheuer mit elektrischer Hochspannung: das waren die Vorbilder der Parvenues auf dem festen Land, ein ganzes Aquarium voll“, belustigt sich Thelen über Keyserling und schickt dann Kessler in den Ring: „Stück für Stück holte Harry die Tiefseeungeheuer, Strahltiere, Medusen, Quallen an die Oberfläche, wo sie eines nach dem anderen platzten ... Den Gnadenstoß brauchte der eine Graf dem anderen nicht zu versetzen, das besorgten die Geladenen: sie bereiteten Conde Harry de Kessler eine donnernde Ovation“, lässt Thelen seine Leser wissen und auch, dass Kessler in den Folgetagen mit Bitten um Vorträge und Vorabdrucke seiner Memoiren überschüttet worden sei: „Kessler lehnte alles ab ... Harry vergrub sich wieder in seine imperiale Zeit, während Hermann auf dem spanischen Festlande sich mit neuem Spiel und neuem Glück als Seher des iberischen Hellas feiern ließ.“

Am 28. Juli 1935 verließ Kessler Mallorca. Thehlen spricht in seinem erst in den 50er Jahren geschriebenen Roman irrtümlich vom Frühjahr 1936. Doch da war Kessler längst in Frankreich. Worin sich Thelen nicht täuschte, war der Gesundheitszustand des Grafen: „Seine Gesundheit war ruiniert, er spuckte Blut; sein Anblick war oft erschreckend.“ Kessler war schon gesundheitlich angeschlagen, als er nach Mallorca gekommen war. 1926 hatte er sich wegen einer Darmblutung einer mehrmonatigen Behandlung im Krankenhaus unterzogen, 1931 litt er an einer Lungenentzündung. Ein Eintrag im Tagebuch Kesslers am 22. Dezember 1935 berichtet von einem Blutsturz, bei dem er „in wenigen Minuten weit über ein Liter Blut verloren“ hat. Reinhard Andress nennt in seinem Buch „Der Inselgarten“ außerdem Herz- und Magenbeschwerden sowie eine exilbedingte Depression, die eine Arbeit an seinen Memoiren erschwerten. Laut Andress war der prekäre Gesundheitszustand der Grund, warum Kessler die Insel verließ. Zurück blieben seine gesamten Aufzeichnungen und Unterlagen, denn der Graf, der mittlerweile nur noch 58 Kilo wog, hatte vor, möglichst bald wieder auf die Insel zurückzukehren. Doch seine Schwester Wilma, deren Kapital abnahm, konnte oder wollte eine Rückkehr nicht mehr finanzieren. Und Kessler war selbst in der Anschaffung der kleinsten Dinge, vom Taschentuch bis zur Unterwäsche, von Wilma de Brion abhängig. Wie verzweifelt er war, zeigt die Begebenheit, dass Kessler ,der mit seiner Schwester brieflich immer nur in englischer Sprache verkehrte, ihr auf Deutsch schrieb: „Bitte lass mich nicht im Stich.“

Harry Graf Kessler, der im Kaiserreich Ansehen und Reichtum genoss und in der Weimarer Republik ehrgeizige politische Pläne hatte und mit einer vielbeachteten Biografie über den ermordeten Reichsaußenminister Walther Rathenau von sich Reden machte, starb einsam, verarmt und vergessen am 30. November 1937 in einem Krankenhaus in Lyon.