Rubén Casas ist Dokumentarfilmer. Bei seinen Dreharbeiten kommt der gebürtige Katalane, der auf Mallorca aufgewachsen ist, der Tierwelt auf den Balearen so nah wie kaum jemand anderes. Sein Film „El archipiélago indómito" (Das unbezwingbare Archipel) dokumentierte 2019 eindrucksvoll die Flora und Fauna der Inseln. Seine Beobachtungen während der Ausgangssperre haben den 50-Jährigen ein wenig an seine Kindheit auf Mallorca in den 80er-Jahren erinnert.

Wo waren Sie zur Jahreswende 2019 und was haben Sie sich vom Jahr 2020 erwartet?

Ich war auf Mallorca und gerade dabei, ein paar Projekte zum Thema Neptungras und nachhaltigem Fischfang fertigzustellen und mich um die Finanzierung dafür zu kümmern. Mein Privatleben ist sehr eng mit meinem Beruf verknüpft. Ich habe das Glück, in einem Bereich zu arbeiten, der mir sehr viel Spaß macht. Ich wollte weiterarbeiten und Dinge erzählen. Ansonsten erwarte ich generell von keinem Jahr etwas Besonderes. So war es auch dieses Mal.

Und wann haben Sie sich zum ersten Mal bewusst damit beschäftigt, dass das Coronavirus auch für die Insel und Sie selbst gravierende Folgen haben könnte?

Als im Januar und Februar die ersten Fälle bekannt wurden. Mir war sofort klar, dass sich das Virus von Wuhan aus auf der ganzen Welt ausbreiten würde. Ich dachte sogar, dass es noch viel schlimmer enden würde - noch apokalyptischer, mit viel mehr Toten und chronisch infizierten Menschen. Bisher können wir uns noch glücklich schätzen. Dass es zum Beispiel schon nach neun Monaten eine Impfung gibt, ist unglaublich, geradezu ein Wunder. Mir war auch schnell klar, dass das Virus das Ende für den Tourismus auf den Balearen bedeutet, in diesem Jahr und auch in den darauffolgenden. Es gibt hier eben nun mal eine touristische Monokultur. Ich persönlich arbeite zwar nicht direkt im Tourismus, aber damit ist hier auf der Insel ja alles verknüpft. Daher hatte ich auch Angst um die wirtschaftlichen Folgen auf den Inseln. Du brauchst keinen Dokumentarfilm zu drehen, wenn ihn am Ende niemand sehen wird, weil die Menschen keine Arbeit und kein Geld haben.

Wie erlebten Sie die ersten Wochen des Lockdowns?

Ich bin sehr gut damit klargekommen - wahrscheinlich auch, weil ich es gewohnt bin, eingesperrt zu sein. Ich habe für meine Arbeit auf Schiffen gelebt oder in Tarnzelten. Ich kann problemlos zwei oder drei Wochen an einem Ort ausharren, etwa auch auf einem Berg, um beispielsweise zu warten, bis ich einen Adler sehe und ihn dann bei etwas Bestimmtem zu filmen. Auch alleine zu sein, macht mir nichts aus. Ich bin alleinstehend und treffe nur ab und an mal Leute. Hinzu kommt: Ich lebe glücklicherweise auf dem Land, auch deswegen hat mich die Ausgangssperre nicht so stark betroffen.

Konnten Sie von dort aus weiter an Ihren Projekten arbeiten?

Ich habe einen Garten. Dort konnte ich Aufnahmen von Vögeln machen. Ich habe etwa eine Trinkstelle aufgebaut, um sie anzulocken, und mir dann in der Nähe ein Tarnzelt aufgebaut. So konnte ich sie filmen, während sie sich putzten, jagten, aßen. Auch Nahaufnahmen von Insekten habe ich einige gemacht und die Wochen der Ausgangssperre ansonsten genutzt, um meine Filme fertig zu schneiden.

Was konnten Sie in der Natur allgemein beobachten?

Die Natur selbst hat sich nicht verändert. Nur unsere Interaktion mit ihr. Da wir uns in unsere Wohnungen zurückgezogen haben, ist sie quasi an uns vorbeigezogen, wir haben sie bewusst gesehen. Mich haben viele Menschen gefragt: „Wie kommt es, dass ich gerade so viele Delfine aus nächster Nähe sehen kann?" Ich antwortete dann immer: „Weil du sie vorher einfach nicht beachtet hast." Die Schiffe schlagen so viele Wellen, dass man sie gar nicht gesehen hat. Dabei waren die Delfine immer da. Und ja, vielleicht haben sie sich eben auch etwas mehr genähert, weil sie auf einmal keine Angst mehr vor Menschen haben mussten. Leider gab es wegen der Umstände aber auch mehr überfahrene Tiere, etwa Marder oder Vögel. Sie hatten sich daran gewöhnt, über bestimmte Straßen zu laufen, die eine Weile quasi nicht befahren waren, und plötzlich wurde die Ausgangssperre aufgehoben, und es waren wieder Autos unterwegs.

Im Internet zirkulierte plötzlich sehr viel Bildmaterial zu Delfinen und anderen Wildtieren. Wie fanden Sie das?

Mich hat es richtig geärgert, dass die Leute so davon überrascht waren, dass es hier wild lebende Tiere gibt und sich die Umwelt und Natur etwas erholt - wo das doch innerhalb von ein paar Monaten nur sehr eingeschränkt möglich ist. Nach fünf oder sechs Jahren wären andere Veränderungen zu sehen gewesen.

Sie meinen, dass die Menschen der Natur nicht wirklich bewusster entgegengetreten sind?

Sie sind so darauf angesprungen, weil es Fotos waren. Sie passten gut in Instagram, die sozialen Netzwerke und das Posen dort. So nach dem Motto „Oh, wie schön, der Panda", aber am Ende machen sie nichts, um ihn zu retten. Stattdessen sollten sie anfangen, weniger Plastik zu benutzen und andere Dinge.

Welches Ereignis hat Sie während der Ausgangssperre am meisten bewegt?

Ein guter Freund meiner Mutter konnte sich nicht persönlich von seinen Freunden verabschieden, sondern musste es per Video-Anruf tun. Er hatte sein ganzes Leben lang gegen verschiedene Krebs- und andere schwere Erkrankungen gekämpft und immer wieder überlebt. Dann hat er sich mit Covid-19 angesteckt und war auf der Palliativstation. Als die Ärzte ihn intubieren wollten, hat er abgelehnt und gesagt: „Lasst mich lieber einen Telefonanruf machen." Das hat meine Mutter so mitgenommen, dass sie es mir erst drei Wochen später erzählt hat. Meine Eltern gehören beide selbst zur Risikogruppe, haben Bypässe. Seit Januar habe ich sie nicht mehr geküsst oder umarmt.

Hatten Sie auch Angst um Ihre eigene Gesundheit?

Ja, ich war schon etwas paranoid. Zum Einkaufen zum Beispiel bin ich nur alle zwei Wochen und auch dann immer nur zu den Zeiten gegangen, in denen kaum Leute unterwegs waren. Und auch bei den Abstandsregeln und allen anderen Sicherheitsmaßnahmen, die es einzuhalten galt, war ich übervorsichtig. Meine Freunde habe ich seit Januar nur einmal getroffen. Das war, als die Ausgangssperre aufgehoben wurde.

Wie haben Sie es geschafft, sich zu beruhigen?

Ich habe mich auf meine Leidenschaft konzentriert: Beobachtungen in der Natur. Die bringen mich runter. Ich habe währenddessen sehr viel über Insekten gelernt und auch viel gelesen.

Im Sommer verbesserte sich die Lage scheinbar. Was haben Sie zu dieser Zeit gemacht?

Meiner Meinung nach hatte sich überhaupt nichts verbessert. Wir haben es uns sogar richtig versaut. Die Inseln wurden wieder für Reisende geöffnet, die keinen PCR-Test vorlegen mussten. Dabei bieten Inseln die perfekten Gegebenheiten für eine solche Kontrolle und es wäre das Normalste der Welt gewesen. Ich selbst wäre dankbar, wenn von mir ein PCR-Test verlangt werden würde, wenn ich irgendwohin fliege. So kann ich mir sicher sein, dass es dort nur ein Minimum an Infizierten gibt. Ich war im Sommer etwa für Dreharbeiten auf Ibiza, und was ich dort gesehen habe, hat mich noch paranoider gemacht. Die gleichen überfüllten Partyschiffe wie sonst. Touristen, die sich zusammen die Sonnenuntergänge anschauen. Es war so, als hätte es nie eine Pandemie gegeben. Ich selbst habe mich in meiner Unterkunft eingeschlossen und noch extremer auf Hygiene geachtet, um mich bloß nicht anzustecken. Für meine Arbeit musste ich mit Fischern raus aufs Meer fahren. Mit den Fängen verdienen sie sich ihren Lebensunterhalt, daher durften sie auf keinen Fall krank werden. Auf dem Boot die Abstände einzuhalten, war teilweise kompliziert, etwa mehrere Kameras vor den Fischern aufzustellen und aus der Distanz zu filmen. Auch als Brillenträger mit Maske zu filmen, ist nicht so einfach.

Glauben Sie, dass dieses Jahr die Insel verändert hat?

Nein, das ist in meinen Augen genau das Problem: dass es eben nichts verändert hat. Wir haben offenbar nichts gelernt. Stattdessen warten wir gerade schon, dass in der Osterwoche wieder eine Million Menschen kommen, was schon vorher nicht umweltverträglich war - statt andere Wege zu suchen, um an Geld zu kommen, zum Beispiel wissenschaftliche. Das Budget für die Hotelfachschule ist riesig, wohingegen kaum Geld für die wissenschaftlichen Fakultäten an der Balearen-Universität zur Verfügung steht.

Kann die Insel denn jemals wieder so werden wie vorher?

Ich habe die Inseln in diesem Jahr, vor allem am Anfang, so erlebt, wie zuletzt in den 80er-Jahren, als ich hier aufgewachsen bin: ohne Massentourismus, naturbelassen, mit saubererem Wasser, weniger Müll und weniger Plastik. Ich wollte schon lange wieder auf so einer Insel leben, aber auch, dass Menschen kommen und sie so genießen können - nicht, um sich zu betrinken, das kann man auch zu Hause machen. Ich war über 15 Jahre weltweit unterwegs, an naturbelassenen Stränden in Madagaskar und anderswo, und ich bin trotzdem wieder hierher zurückgekehrt. Die Balearen bieten Unglaubliches. All das habe ich 2020 wieder gesehen.

Gibt es also doch noch Hoffnung?

Wenn wir nicht 16 Millionen Urlauber hierhin lassen und nicht versuchen, jedes Jahr noch eine Million Menschen mehr auf die Inseln zu locken. Natürlich sollen die Leute kommen. Die Insel lebt vom Tourismus. Die Hälfte an Urlaubern reicht aber auch. Man sollte sie zwingen, einen fairen Preis zu zahlen, und ihnen den Urlaub nicht schenken. Daneben muss es auf den Balearen auch noch andere Einnahmequellen geben.

Und wie sieht es nun künftig für die Tier- und Pflanzenwelt aus?

Weiterhin verschwinden täglich weltweit über 100 Arten. Wir holzen viel mehr Bäume ab, als wir pflanzen. Wir geben der Natur keine Chance. Uns hat es zwar gefallen, sie während der Ausgangssperre eine Weile lang zu beobachten, aber schon kurz danach ist alles wieder wie vorher. Im Sommer wird hier nach wie vor das Neptungras von den Stränden abtransportiert. Dabei ist es überlebenswichtig für das Ökosystem und die Unterwasserwelt. Das Jahr 2020 hat also nicht mal gereicht, um das zu lernen, mitten in einer Pandemie. Auch mit nicht wiederverwendbaren Masken tun wir der Umwelt Schlimmes an. Letztes Jahr haben die Menschen Fotos von sich für Instagram gemacht, wie sie die Strände von Plastik befreit haben. Und heute benutzen genau dieselben Leute 20 Masken pro Woche, werfen sie hin, wo sie wollen, und machen sich gar keine Gedanken, wo sie am Ende landen. Wir haben uns nicht verändert. Ich wünschte, ich würde mich täuschen.

Haben Sie für 2021 ein Projekt, zu dem Sie das Pandemie-Jahr inspiriert hat?

Ich werde einen Film über Bienen machen, dafür einen Bienenstock nachbauen und ihr Leben von dort aus ein Jahr lang filmen. Damit möchte ich die Bedeutung der Insekten und der nachhaltigen Bienenzucht und Landwirtschaft zeigen. Eine Beobachtung während der Ausgangssperre hat mich auf die Idee gebracht: An den Straßen- und Wegrändern wird normalerweise der Bewuchs in Schach gehalten. Diese Jahr gab es enorm viele Insekten und Pflanzenwuchs dort, weil nicht eingegriffen wurde. Ich weiß noch, wie ich als kleiner Junge mit meinem Vater auf dem Motorrad unterwegs war und wir öfter mal an einer Tankstelle anhalten mussten, weil wir Insekten auf der Helmscheibe hatten. Heutzutage im Frühjahr hast du oft kein einziges dort. Es gibt kaum noch welche. Dabei sind sie die Basis der Nahrungskette.