Mit den in dieser Ausgabe beschriebenen deutschen und spanischen Erziehungsmustern verhält es sich so wie mit vielen anderen kulturellen Unterschieden, die uns als ausländischen Residenten auf der Insel tagtäglich begegnen: Es gibt sie, aber wir sollten sie auch nicht überbewerten. Unsere Persönlichkeit setzt sich zum Glück auch noch aus anderweitig vermittelten Werten zusammen. Nicht nur das Land, in dem wir aufwachsen, spielt eine Rolle, sondern auch die Familie, die Nachbarschaft oder die soziale Schicht, in die wir hineingeboren werden. Vorschnelle, auf vermeintlich nationalen Besonderheiten beruhende Urteile führen da häufig in die Irre.

Ein Beispiel: In unserer deutschen Großfamilie kam kürzlich ein Kind zur Welt. Zur Verwunderung der gesamten Sippschaft beschlossen die noch nicht 30-jährigen Eltern, den kleinen Emil in den ersten zehn Lebenswochen weitgehend von Besuchen abzuschotten. Auch sollte zunächst niemand außer den Erzeugern das Baby in den Arm nehmen. Von der Insel aus betrachtet, erschien das bemerkenswert deutsch – aus mallorquinischen Krankenhäusern ist bekannt, dass sich die Verwandten schon kurz nach der Entbindung auf der Neugeborenen-Station stapeln und von da an das Kind auch nicht mehr aus den Augen lassen.

Sollte man jedenfalls meinen. Ein Gespräch mit einer gerade zur Großmutter gewordenen Mallorquinerin belehrte uns eines Besseren. Auch ihre Tochter hatte gerade einen Sohn geboren, und auch diesen kleinen Toni durfte zur Verwunderung der gesamten Sippschaft während der ersten Wochen niemand besuchen oder in den Arm nehmen (im Unterschied zu unserer Familie gedachte die resolute spanische Großmutter freilich nicht, sich an diese Anweisungen zu halten). Ist da etwa ein neuer internationaler Trend im Entstehen, bei dem jungen Familien dazu geraten wird, zunächst zu sich selbst zu finden (wofür es ja gute Gründe geben mag)?

Wir rätseln noch darüber. Fest steht jedoch: Die Welt ist zu kompliziert, um sie in Schablonen zu pressen.