Um viele bedeutende Geschehnisse der jüngeren spanischen Geschichte ranken sich Mythen, Halbwahrheiten und reichlich Spekulationen, wie etwa um den gescheiterten Putschversuch am 23. Februar 1981. Das liegt daran, dass als geheim eingestufte Dokumente der letzten Jahrzehnte nach wie vor streng unter Verschluss gehalten werden. Das geltende Gesetz zur Geheimhaltung stammt von 1968, zur Zeit der Franco-Diktatur. Es sieht die unbefristete Geheimhaltung der als streng vertraulich eingestuften Dokumente vor.

Seit Langem klagen Geschichtsforscher, Journalisten oder auch Aktivisten der Opfer der Diktatur und des Terrorismus über diesen Umstand, der sie dazu zwingt, bei ihren Recherchen zur spanischen Geschichte auf ausländische Archive auszuweichen. Vor sechs Jahren regte die baskische, nationalistische Partei PNV eine Reform des Gesetzes aus der Franco-Zeit an, und 2018 verständigten sich die beiden großen Parteien, die Sozialisten der PSOE und die konservative PP, prinzipiell darauf, neue Regeln zu schaffen.

Anfang August war es dann so weit: Das Kabinett verabschiedete den Entwurf für ein neues Gesetz zur Geheimhaltung von Staatsdokumenten, das „Ley de Protección de la Información Clasificada“. Darin ist nun erstmals die automatische Freigabe von verschlossenen Dokumenten nach einer bestimmten Frist vorgesehen, sofern die Sicherheit des Staates dadurch nicht gefährdet wird. Im Zweifelsfall entscheidet der Oberste Gerichtshof (Tribunal Supremo) über die Freigabe.

Neues Gesetz zur Geheimhaltung von Staatsdokumenten enttäuscht auf breiter Front

Die Sozialisten von Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez feierten das Ende des Gesetzes aus Zeiten der Diktatur als großen Durchbruch für die Transparenz. Doch bei fast allen anderen war die Enttäuschung groß – von Historikern über Menschenrechtsgruppen bis hin zu den Parteien, einschließlich des Koalitionspartners der Sozialisten, des Linksbündnisses Unidas Podemos.

Sie kritisieren besonders die langen Fristen, unter denen Informationen unter Verschluss gehalten werden können. Es gibt fortan vier Kategorien von vertraulichen Unterlagen. Die „streng geheimen“ Dokumente werden erst nach 50 Jahren freigegeben, eine Frist, die um 15 Jahre verlängert werden kann. Für „geheime“ Archive gelten 40 Jahre mit einer möglichen Verlängerung von zehn Jahren. „Vertrauliches“ Material ist nach sieben bis zehn Jahren zugänglich und „eingeschränkte“ Informationen nach vier bis sechs Jahren, wobei in beiden Fällen keine Verlängerung möglich ist.

Den Kritikern hielt Félix Bolaños, der Minister des mächtigen Präsidialamtes, entgegen, dass die Fristen in vielen Ländern noch länger seien. Doch in Großbritannien oder in Deutschland werden Geheimdokumente schon nach 30 Jahren freigegeben. Was die Opposition und Akademiker aber noch mehr stört, ist die Tatsache, dass das neue Gesetz nicht rückwirkend gilt. Das heißt, alle verschlossenen Dokumente seit 1968 bleiben erst einmal unter Verschluss.

Bolaños erklärte, dass die „immense Menge“ des Materials eine automatische Freigabe unmöglich mache. Personen „mit berechtigtem Interesse“ könnten jedoch Dokumente anfordern. Das Problem aber ist, dass es gar kein Verzeichnis gibt. Wie soll man ein bestimmtes Dokument anfordern, wenn man von dessen Existenz gar nichts weiß, fragen die Kritiker.

Viele Episoden der jüngeren spanischen Geschichte sind noch nicht restlos aufgeklärt

Das Interesse der Experten, Aktivisten und Journalisten an den Archiven ist enorm, denn es gibt mehrere geschichtliche Episoden, deren Rekonstruktion Lücken aufweist. Dazu zählt das Ende der Franco-Diktatur und der Übergang zur Demokratie nach dem Tod des Diktators 1975, eine Zeit, die vom Ministerpräsidenten Adolfo Suárez und dem damaligen König Juan Carlos I geprägt wurde.

Der Putschversuch vom 23. Februar 1981, als Beamte der Guardia Civil das Parlament stürmten und die Abgeordneten, einschließlich Suárez, stundenlang mit vorgehaltener Pistole festhielten, ist ebenfalls unzureichend aufgeklärt. Historiker hoffen, dass es in den Archiven Aufschlüsse darüber geben könnte, wie weit die Verschwörung reichte.

Auch der schmutzige Krieg gegen die Terrororganisation ETA ist nie ausreichend aufgeklärt worden. In den 80er-Jahren brachte die inoffizielle Antiterrortruppe GAL im Auftrag der damaligen sozialistischen Regierung von Felipe González baskische Terroristen um. Und schließlich haben Experten viele Fragen über den jahrzehntelangen Konflikt um die britische Kronkolonie Gibraltar oder die Unterstützung des konservativen Regierungschefs José María Aznar für den Irak-Krieg.

Kritik von Koalitionspartner: Regierung behandelt die Bürger wie Minderjährige

Bei den Parteien erntete der Gesetzentwurf reichlich und unterschiedliche Kritik. Die PP beschwerte sich darüber, nicht konsultiert worden zu sein. Sánchez’ Koalitionspartner Unidas Podemos hält dagegen die Fristen für zu lang. „Wenn man der Gesellschaft Geheimnisse 50 Jahre lang vorenthält, behandelt man die Leute wie Minderjährige“, klagte Jaume Asens, Sprecher des katalanischen Ablegers von Podemos und selbst Anwalt. Auch die baskischen Parteien PNV und die links-separatistische EH Bildu protestierten.

Sánchez ist auf die Zustimmung dieser Partner angewiesen, denn das neue Geheimhaltungsgesetz muss vom Parlament abgesegnet werden, wo die Sozialisten keine eigene Mehrheit haben. Daher hat Verteidigungsministerin Margarita Robles schon einmal vorsichtig mögliche Nachbesserungen angedeutet. Die Historiker müssen sich bis dahin weiter gedulden.