Unabhängig vom Ausgang der Europameisterschaft wird Martina Voss-Tecklenburg im Anschluss nach Mallorca kommen. „Die drei Wochen Urlaub sind schon gebucht“, verrät die Fußball-Bundestrainerin der Frauen. Die MZ hat mit der 54-Jährigen über das Fußballfieber in Deutschland, die Debatten über die Prämien und die Titelchancen der Deutschen gesprochen. Die deutschen Damen starten am Freitag (8.7., 21 Uhr, ZDF) gegen Dänemark in das in England ausgetragene Turnier. Am Dienstag (12.7., 21 Uhr, ARD) kommt es zum Spitzenspiel gegen Spanien, wo unter anderem die Mallorquinerinnen Patricia Guijarro und Mariona Caldentey auflaufen dürften.

Wie steht es um die EM-Stimmung in Deutschland? Hängen die Fahnen und Wimpel schon aus den Fenstern?

Bei den Frauenfußballfans ist das EM-Fieber schon ausgebrochen. Bei unserem Testspiel gegen die Schweiz waren in Erfurt 6.000 Leute dabei, die noch lange nach dem Spiel geblieben sind und geduldig auf Autogramme gewartet haben. Abgesehen davon habe ich aber das Gefühl, dass viele Menschen gar nicht wissen, dass eine EM ansteht. Fahnen und Wimpel sehe ich nicht. In den Zeitungen wird eher über die Winter-WM der Männer geschrieben. In unseren Lokalblättern habe ich gelesen, dass dieses Jahr im Sommer kein großes Fußballturnier ansteht. Wir müssen die Leute mit guten Leistungen begeistern.

Ist dann ein Sommermärchen mit Fanmeile und Public Viewing denkbar?

Im Halbfinale oder im Finale kann ich es mir vorstellen. Da hoffe ich auf einen Impuls der Fußballfans. In diesem Zusammenhang müssen wir aufhören, zwischen Frauen- und Männerfußball zu unterscheiden. Ich wünsche mir, dass den Fans egal ist, ob Mädchen, Jungs, Frauen oder Männer spielen. Sie lieben den Sport an sich und feuern die deutsche Nationalmannschaft an.

Die Frauen des FC Barcelona haben in dieser Saison neue Zuschauerrekorde aufgestellt. Das EM-Finale findet zwar in Wembley statt, andere Spiele aber nur in 7.000 Plätze großen Stadien. Stapelt man da zu tief?

Die Kapazität der Stadien schwankt enorm. Traditionell sorgen die Endspiele für mehr Interesse als manch Gruppenspiel. Umso mehr wünsche ich mir, dass die englische Gesellschaft alle Mannschaften unterstützt. Die Partien der Engländerinnen waren ratzfatz ausverkauft. Da wird es nicht an Fans fehlen. Es müssen aber auch Zuschauer zu den Spielen anderer Nationen kommen.

Equal Pay ist derzeit in aller Munde. Sprich, dass die Frauen die gleiche Summe an Prämien kassieren wie die Männer. Bei sieben von 16 teilnehmenden Teams ist das der Fall. Bei Deutschland jedoch nicht.

Das stimmt so nicht. Das wird prozentual gerechnet. Die Frauen bekommen in manchen Ländern den gleichen Anteil der Einnahmen, die das Turnier erzeugt, wie die Männer. Die Realsumme bleibt unterschiedlich. Auch die Spanierinnen bekommen nicht das gleiche Geld wie die Männer. Wir würden bei einem EM-Sieg 60.000 Euro bekommen. Die Männer hätten 400.000 Euro bekommen. Das muss sich im Laufe der Zeit angleichen, wobei ich keinesfalls 400.000 Euro für die Frauen fordere. Diese Summen sind übertrieben. Viel wichtiger als Equal Pay ist uns Equal Play: Ich möchte, dass alle Bundesligaspielerinnen ein Grundgehalt bekommen. Dass sie einen Profistatus haben. Dass die Infrastrukturen verbessert werden. Die Vereine müssen klar Stellung beziehen und sagen: Ein Mädchen ist uns genauso viel als Talent wert wie ein Junge und wird entsprechend gefördert. Mit dem Nationalteam hatten wir die gleichen Trainingsbedingungen wie die Männer. Nie zuvor konnten wir uns so gut vorbereiten.

Ihre Spielerinnen haben mehrfach gesagt, dass der Frauenfußball ehrlicher ist, weil es den Kommerz nicht gibt. Was ist damit gemeint?

Die größere Freude und Liebe zum Sport kommt zum Ausdruck. Ein Fußballer, der viele Millionen Euro verdient, liebt den Sport zwar nicht weniger, aber es kommt nicht so rüber. Wir haben mehr Widerstände, mehr Herausforderungen zu überwinden. Die Frauen machen duale Karriere, bringen doppelte und dreifache Leistung. Ein Profifußballer hat selten Existenzängste und muss sich keine Gedanken machen, wie die Familie versorgt wird.

Wie wahrscheinlich ist ein EM-Sieg?

Er ist möglich, aber das sagen sieben oder acht andere Teams auch. Das gab es aus meiner Sicht noch nie. Auf dem Papier ist es die beste EM aller Zeiten. Spannend wird sein, wie die Favoriten mit dem Erwartungsdruck umgehen werden. Wir wollen jedes Spiel gewinnen und gehen auch entsprechend ins Risiko.

Was ist von den Spanierinnen zu erwarten?

Die Nationalmannschaft hat als A-Team zwar noch keinen Titel gewonnen, ist aber im Nachwuchs herausragend. Das zeigt sich langsam. Frauenfußball hatte in Spanien lange Zeit gar keine Bedeutung. Wenn ich sehe, was dort in den vergangenen sechs, sieben Jahren passiert ist, geht mir aber das Herz auf. Spanien zeigt einen technischen Fußball, der aus viel Ballbesitz besteht. Die Spielerinnen sind bestens ausgebildet und spielen den Ball meist mit nur einer Ballberührung. Sie sind so eingespielt, dass sie fast wie eine Vereinsmannschaft auftreten. Wenn sie ihre Leistung auf den Platz bekommen können, gehören sie für mich zu den Top-Favoriten. (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde geführt, bevor bekannt wurde, dass Spaniens Topstar Alexia Putellas wegen eines Kreuzbandrisses die EM verpasst.)

Bei Ihrer Mannschaft fallen viele bekannte Spielerinnen weg, die lange Jahre das Aushängeschild der Nationalmannschaft waren. Torfrau Almuth Schult bleibt nur ein Platz auf der Bank, Dzsenifer Marozsán ist nach Kreuzbandriss nicht dabei, und Alexandra Popp muss sich noch von Corona erholen. Wer werden die Eckpfeiler Ihres Teams sein?

Die Torhüterin ist eine wichtige Säule. Egal, ob das Merle Frohms ist, für die es das erste große Turnier wäre, oder Almuth Schult, die ein Gesicht des deutschen Frauenfußballs ist. Wir werden viel über das Kollektiv lösen. Wir haben den ausgeglichensten Kader, den ich in meinen drei Jahren Amtszeit erlebt habe. Das könnte ein Vorteil für uns sein, da wir im Spiel fünf Mal wechseln dürfen. Die brutale Qualität im Kader haben wir gegen die Schweiz gesehen. Im Testspiel durften wir sogar sechs Mal wechseln, und dennoch kam es zu keinem Bruch im Spiel. Im Gegenteil konnten wir das Tempo hochhalten. Ich habe jeder der 23 Spielerinnen gesagt: Du hast Entscheidungsqualitäten. Sei es, um das Ergebnis zu sichern oder um es zu verändern. Das meine ich auch so.