Zwischen zwei Buchten an der Ostküste von Mallorca streckt sich seit 1995 eine Stele in den Himmel. Sechs Meter hoch ist der aus Marès-Blöcken geschichtete steinerne Totempfahl, der archaische Kraft und auch die zeitlose Schönheit der Insel verkörpert. Doch die Idee, die dahintersteckt, war zeitgebunden und politisch – und ist heute wieder hochaktuell.

Frieden und Unfrieden – in Stein gehauen

An vier weiteren europäischen Orten ließ der Bildhauer Rolf Schaffner, der als im Jahr 1927 geborener Deutscher noch in den Zweiten Weltkrieg und als junger Mann in die Gefangenschaft ziehen musste, Schwestern-Monumente errichten. Die mittlere Stele steht in Köln, die westliche im irischen Cork; im Norden beherbergt Trondheim ein Equilibrio, in Russland ist es die Stadt Wolgograd, ehemals Stalingrad. Einige stehen auf alten Kriegsbunkern, immer sind sie aus regionalem Material gebaut, die mallorquinische aus dem insel- typischen gelben Sandstein.

14 Jahre brauchte dieses groß gedachte Werk für seine Vollendung, doch zwei Jahre zuvor verstarb der Künstler und Wahlmallorquiner. Seine Wegbegleiterin Nora Braun ruhte nicht, bis der allerletzte Stein im Jahr 2009 in Irland gesetzt war. Eine Infotafel auf der Erhebung zwischen den Calas Santanyí und Llombards erklärt Vorbeikommenden, was mit normalen Sinnen nicht fassbar ist: Zwischen den fünf Stelen gezogene Verbindungslinien, die „Friedensmeridiane“, formen ein Kreuz, halten Europa zusammen. Eine Struktur, die nur vom Himmel aus oder in der Fantasie zu sehen ist.

Schaffner verstand seine letzte große Arbeit als Mahnung und Auftrag: Nie wieder Krieg! Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war dieser in Stein gehauene Gedanke kein frommer Wunsch mehr.

Schmerzende Wunde in Europa

Ich bin oft an diesem besonderen Ort gewesen, vor dem die Küste steil abfällt und das Felsentor Es Pontàs die Meerwellen bricht. Immer wenn ich länger in unserem Dorfhaus in Pollença lebe und schreibe, zieht es mich dorthin. Aber Ende September bewegte mich der Besuch auf besondere Weise. Zuvor war mir nie aufgefallen, dass der längste, der mittlere Meridian, der von Cork über Köln nach Wolgograd reicht, mitten durch die große Ukraine führt. (Wer wusste schon etwas von diesem Land, bevor junge Europäer:innen auf dem Maidan erschossen wurden, weil sie Freiheit forderten.)

Wie ein brutaler Schnitt kam mir nun vor, was Frieden symbolisieren sollte. Ich sah eine tiefe, schmerzende Wunde mitten in Europa, wo seit acht Monaten ein Krieg tobt.

Frieden und Unfrieden – in Stein gehauen

Im Sommer 2016 unvorstellbar

Im Sommer 2016 war das unvorstellbar gewesen, als mehr als ein Dutzend Schüler:innen und Studierende aus Deutschland, Russland und Mallorca in Santanyí zusammenkamen, um auf der Insel den europäischen Gedanken zu feiern. Alle bewegt der Besuch an der südlichen Equilibrio-Stele, als Saxofonklänge das Friedenszeichen umtönten. Als Gast sprach ich auf diesem zweiten Jugendtreffen, und meine Rede endete optimistisch: „Wenn die heute hier Versammelten ihren Kindern und Enkeln einmal von einem Treffen erzählen werden, dass wegen eines steinernen Totempfahl mit Meerblick stattgefunden hat, so geschieht das hoffentlich in einem Europa, in dem rund um das Mittelmeer wieder ein Gleichgewicht eingekehrt ist, in dem mehr Gerechtigkeit herrscht und ein Frieden besteht, der weiter reicht als der Horizont um die Insel Mallorca und weiter als unser derzeitiges Vorstellungsvermögen.“

Equilibrio reloaded – ein schöner Gedanke, zerplatzt wie Seifenblasen. Denn es herrscht weiter Un-Frieden rund ums Mittelmeer, in dem immer mehr Zukunftssuchende ertrinken, und ein neuer Krieg entzweit Europa.

Traum in Stein gehauen

Und dennoch: Die Stele, geschichtet aus wuchtigen Sandsteinblöcken und golden schimmernd in der Sonne, ist so schön und stolz wie immer. Nur trotziger kam sie mir vor und noch widerständiger als ihr Erbauer, der am Ende seines Lebens gewarnt hatte: „Mein Projekt müsste eigentlich Desequilibrio (Ungleichgewicht) heißen, das weltweit zunimmt. Für unser eigenes Gleichgewicht können wir etwas tun. Der Willkür von Potentaten sind wir aber scheinbar schutzlos ausgeliefert.“

Die Abendnachrichten meldeten dann, dass Russlands Herrscher Putin just an diesem Tag eine Teilmobilmachung ausgerufen hatte und der Ukraine und letztlich ganz Europa mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte.

Und ich erinnerte mich daran, dass ein Totempfahl von Toten und Lebenden erzählt. Dass er beschützen und zum Träumen ermutigen soll. Und die erste Stele des Equilibrio-Projekts, die sich seit bald 30 Jahren zwischen zwei wunderschönen Buchten an der Östküste Mallorcas hoch in den Himmel reckt, verkörpert genau das: Den tröstlichen Traum von einem europäischen Frieden, wie in Stein gehauen. Gleichgültig, wie lange der Weg noch ist.