Mallorca Zeitung

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Pflegefamilien auf Mallorca: so schwer der Anfang, so hart der Abschied

Die Familie Pericát Grau aus Porreres nimmt übergangsweise Pflegekinder auf. Das ist nicht immer einfach – aber für die gebeutelten Minderjährigen Gold wert

Entschieden sich gemeinsam, Pflegekinder aufzunehmen: Antònia Grau (rechts), ihr Mann Bernat und ihre Kinder Carme und Xavier. Nele Bendgens

Ana* schreit. Laut, schrill, penetrant. Mit geballten Fäusten und wutrotem Gesicht steht sie in der Küche der Familie Pericás Grau. Ablenken, beschwichtigen, trösten, ignorieren – nichts hilft gerade. Pflegevater Bernat Pericás entscheidet sich in solchen Situationen meist für Letzteres. „Wenn sie sich so verhält, beachte ich sie nicht“, sagt er mit fast stoischer Ruhe. Seine Frau Antònia Grau dagegen zieht die Vierjährige auf ihren Schoß, drückt sie an sich. Wie eine Ertrinkende klammert sich das Mädchen an sie, weniger aggressiv jetzt, doch sie schreit noch immer. „So ist es mit ihr, jeden Tag“, sagt Bernat Pericás über den Lärm hinweg. „Mal Engel, mal Teufel, von einem auf den anderen Moment.

Eine Stunde zuvor. Noch geht es an diesem Donnerstagabend in dem modern renovierten alten Stadthaus in Porreres friedlich zu. Tochter Carme (15) räumt ihre Hausaufgaben von der Kücheninsel und kuschelt sich auf das Sofa im angrenzenden Wohnzimmerbereich, neben sich das warme Kaminfeuer. Ihr Bruder Xavier (11) lässt sich auf einen Stuhl neben ihr plumpsen. Auch Ana setzt sich dazu. Einen Malblock in der Hand, dazu ein paar Stifte. Konzentriert widmet sie sich den Farben vor sich.

Zuhause missbraucht

Niemand, der von draußen einen Blick durch die verglaste Terrassentür ins Innere wirft, würde vermuten, dass Ana noch gar nicht so lange hier ist. Und dass sie in ihren ersten vier Lebensjahren schon Schlimmeres erlebt hat, als viele andere je erleben werden. Nicht hier bei ihrer Pflegefamilie, sondern zuvor. In ihrer Herkunftsfamilie, ihrem anderen Leben. Wo es vermutlich keine geregelten Mahlzeiten gab, keine Obstschale auf dem Tisch, kein Regal voller Spielzeug, niemanden, der sie auffing, wenn sie weinte, und niemanden, der ihr Struktur und Sicherheit gab. „Sie wurde misshandelt. Die Details kennen wir nicht“, sagt Pflegemutter Antònia Grau und wirft Ana einen liebevollen Blick zu, bevor sie sich ebenfalls setzt.

Schon lange, weit vor der Geburt ihrer eigenen Kinder, sagt Antònia Grau, habe sie mit dem Gedanken gespielt, Pflegekinder aufzunehmen. „Wir kannten mal jemanden, der drogensüchtig war und am Projecte Home teilnahm. Dort lernte ich Pflegefamilien kennen. Seitdem verspürte ich den Drang, selbst zu helfen“, sagt die 40-Jährige. Mit zwei eigenen kleinen Kindern kam das für sie zunächst nicht infrage. Erst im April 2022 wurde die Idee wieder konkret. Antònia Grau und ihr Mann meldeten sich bei einem zehntägigen Kurs der Sozialbehörde IMAS von Mallorcas Inselrat an. Sie ließen sich nicht abschrecken von den Härtefällen, die dort angesprochen wurden und beantragten die Aufnahme in das „Canguro“-Programm – jenem Pool aus Notfall-Pflegefamilien also, die kurzfristig und übergangsweise Kindern zwischen null und sechs Jahren eine Bleibe geben.

Säugling mit Entzugserscheinungen

Zahlreiche Papiere musste das Ehepaar einreichen (siehe unten), dann noch an psychologischen Tests teilnehmen und Gutachter in ihr Haus lassen, die ihre Wohnumgebung in Augenschein nahmen. Seit Juni stehen sie nun auf der IMAS-Liste – und bereits am 12. Juli klingelte erstmals das Telefon. Ob sie bereit seien, ein Neugeborenes aufzunehmen. Den kleinen Adrián*, dessen Mutter bei der Geburt Kokain im Blut nachgewiesen wurde. Sie waren bereit. So bereit, wie man so kurzfristig sein kann. Schon fünf Tage später zog das Kind ein. Ein Säugling mit Entzugserscheinungen, der sich selbst das Gesicht zerkratzte, sobald man ihn ablegte. „Plötzlich war alles anders“, erinnert sich Tochter Carme. Mit Adrián erhielten Windeln, Kinderwagen und Fläschchen von einem auf den anderen Tag Einzug ins Haus, das Ehebett bekam plötzlich einen neuen Mitnutzer. „Aber es war toll, Adrián ist klasse“, sagt Carme.

Die 15-Jährige wirkt reif. Sie geht gelassen, bestimmt und liebevoll mit Ana um, ähnlich wie ihre Mutter. „Die Entscheidung für Pflegekinder haben wir alle vier zusammen getroffen.“ Durch lange Gespräche, Dokumentationen im Fernsehen, Infomaterial vom IMAS. „Das geht nur, wenn die ganze Familie an einem Strang zieht“, sagt Mutter Antònia. „Wir wechselten uns alle damit ab, Adrián herumzutragen. Es klappte gut.“

Beschwerlicher Anfang

Und dann, nur wenige Wochen später, kam Ana. „Am 11. August. Den Tag werde ich nie vergessen“, sagt Xavier. Der Elfjährige ähnelt in seiner wortkargen, leicht zynischen Art schon jetzt seinem Vater. Wenn mit einem Neugeborenen im Haus noch von Ruhe die Rede sein konnte – spätestens mit Anas Einzug war es damit vorbei. „Sie wollte nicht zu uns, hatte Angst, schrie ununterbrochen. Ihre Antwort auf alles, wirklich alles war Nein. Autofahren, Anschnallen, Essen, Anziehen, immer nur Nein“, sagt Antònia Grau.

Und das Gezeter hielt an. Allmorgendlich vor der Vorschule, nachmittags auf dem Spielplatz, abends vorm Insbettgehen. Es waren diese ersten Monate, in denen Antònia Grau, zwischen pflegeintensivem Säugling und verstörter Vierjähriger, ernsthaft Zweifel kamen, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, sich als Kurzzeit-Pflegefamilie anzubieten. „Zwischendurch dachte ich, wir schaffen es nie bis Weihnachten.“ Mehrmals griff sie auch auf die Notfallhotline vom IMAS zurück, bei der Experten – zusätzlich zu den Fachkräften, die ohnehin in regem Kontakt zu den Pflegefamilien stehen – rund um die Uhr ansprechbar sind.

Erfreuliche Entwicklung

„Und dann wurde es allmählich besser“, sagt Grau. Langsam aber stetig gewöhnte sich Ana an ihre neue Umgebung, an die Vorschule, die ausgewogene Ernährung, die Hygieneregeln und die Menschen. „Mittlerweile geht sie sogar zum Schwimmkurs. Und gestern war sie zum ersten Mal beim Arzt, ohne Angst zu haben“, sagt Antònia Grau. „Diese Entwicklung mitzuerleben macht dann wieder Mut, es ist einfach schön zu sehen, dass es hilft, was wir tun“, sagt die Pflegemutter.

Maximal zwei Jahre kann Ana bei Familie Pericás Grau in Porreres bleiben. Bis dahin darf sie unter Experten-Aufsicht in den Räumlichkeiten des IMAS in Palma wöchentlich je eine Stunde ihre leiblichen Eltern treffen. Getrennt voneinander – der Vater darf sich der Mutter auf richterliche Anweisung hin nicht nähern. Dass Ana mittelfristig wieder bei einem von ihnen wohnen darf, ist unwahrscheinlich – zu problematisch sind die Umstände. „Vermutlich wird sie dann in eine Dauerpflegefamilie kommen“, so Antònia Grau. Noch so ein Thema, das mit komplexen Gefühlen verbunden ist.

Natürlich sei sie da, die Angst vor dem Abschied. Dem Tag X, an dem man plötzlich wieder loslassen muss, was sich gerade erst aufgebaut hat. Und jedes Familienmitglied geht anders damit um. „Wenn Ana geht, machen wir ein Fest“, sagt Sohn Xavier und grinst schief. Der Elfjährige ist ein schlechter Lügner. Es sind die kleinen, liebevollen Gesten, die verraten, dass auch er seine kleine Pflegeschwester längst ins Herz geschlossen hat. Wenn er ihr Tipps beim Malen gibt, wenn er ihr hilft, Wasser in ein Glas zu füllen.

Unvermeidlicher Abschied

Einen Abschied hat die Familie bereits hinter sich: Säugling Adrián wohnt seit Mitte Dezember bei seiner leiblichen Großmutter. „Aber er kommt uns jede Woche besuchen, bleibt oft auch übers Wochenende“, sagt Antònia Grau. Noch immer steht sein Hochstuhl präsent im Wohnzimmer, gleich neben den Spielsachen, die Ana gehören. Ein Großteil davon kommt direkt vom IMAS. Aber das neue Fahrrad draußen, das haben ihr die Pflegeeltern geschenkt. „Die Heiligen Drei Könige“, korrigiert Antònia Grau lächelnd. Mehrere Hundert Euro bekommt die Familie vom IMAS monatlich, um Essen und Kleidung für Ana zu kaufen. Gerade genug, um Kosten zu decken, aber zu wenig, um sich finanziell daran zu bereichern. Auch sämtliche Betreuungskosten wie Kitageld, Schulmensa und Sommerschule übernimmt die Sozialebhörde.

Plötzlich knallt Ana ihr Malbuch auf den Tisch. Fast eine Stunde mehr oder weniger still sitzen, länger ist nicht drin. Jetzt will sie runde Chipsbällchen. Sofort. „Die haben wir nicht“, sagt ihre Pflegemutter. Das Geschrei beginnt, wird lauter und lauter. Nichts hilft mehr. Vater Bernat, der grade etwas aufgetaut ist, verschanzt sich hinter einem stoischen Gesichtsausdruck und schweigt. Mutter Antònia versucht es mit Trost, Xavier und Carme beginnen, den Wohnzimmertisch abzuräumen, verdrehen die Augen. Der friedliche Familienabend vorm Kamin ist vorbei. Doch es werden weitere kommen. Ganz bestimmt. Und immer häufiger auch mit Ana. (* Namen geändert)

Auch deutsche Residenten als Pflegefamilie gern gesehen

Kein Kind unter sieben Jahren im Heim – lautet die Prämisse des Inselrats. Sie geht auf: Aktuell sind 53 Kinder in 41 „Canguro“-Familien übergangsweise untergebracht. 446 weitere Minderjährige kommen in Langzeitpflegefamilien unter. Wer ein Pflegekind aufnehmen will, muss zwischen 25 und 65 Jahren alt sein, darf nicht vorbestraft sein und muss über Zeit und eine angemessene Wohnsituation verfügen. Das IMAS unterstützt mit Expertise und Geld. Infos unter Tel.: 900-10 04 44 und im Netz www. imasmallorca.net

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