Mallorca Zeitung

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Suchtverhalten verstehen: "Wir suchen uns Belohnung in der digitalen Umwelt"

Weltkongress über Suchtstörungen und ihr Zusammenspiel mit psychiatrischen Störungen auf Mallorca: Psychologe Matthias Brand über die aktuelle Erforschung der Verhaltenssüchte

Psychologie-Professor Matthias Brand in Palmas Kongresszentrum. | FOTO: NELE BENDGENS

Vom Tabakkonsum über Computerspiele bis hin zur Pornografie Suchtstörungen aller Art und ihr Zusammenspiel mit psychiatrischen Störungen (Dual Disorders) standen im Mittelpunkt des achten Weltkongresses, bei dem sich vergangene Woche mehr als 2.000 Experten vier Tage lang in Palmas Kongresszentrum austauschten. Aus Deutschland war Professor Matthias Brand angereist, Leiter des Fachgebiets „Allgemeine Psychologie: Kognition“ an der Universität Duisburg-Essen.

Welche Bedeutung messen Sie dem Kongress hier in Palma bei?

Sucht und Dual Disorders betreffen global alle Gesellschaften, genauso die Verhaltenssüchte, mit denen ich mich beschäftige. Gerade die onlinebezogenen Verhaltenssüchte haben in der letzten Dekade deutlich zugenommen. Von daher ist es sehr gut, dass der Weltkongress jetzt hier in Palma stattfindet und sich Forschende und Praktikerinnen in einem schönen Ambiente austauschen können.

Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich?

Die Zusammenarbeit ist wichtig, die Gespräche und lebendigen Diskussionen sind inspirierend. Keiner von uns kennt die Wahrheit über die Frage, wie man den Störungen am besten begegnen kann. Der intensive Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die jeweils Experten auf ihrem Gebiet sind, hinterfragt die eigene Perspektive.

Das Kongresszentrum in Palma wird der Schauplatz für den EU-Gipfel zum Thema Tourismus sein. | FOTO: GUILLEM BOSCH johannes krayer, myriam moneo

Bei den Vorträgen gewinnt man den Eindruck, dass zwar viele Faktoren bei Suchtprozessen identifiziert sind, aber es schwierig zu sagen ist, wie sie zusammenhängen und was letztendlich die Gründe für die Süchte sind.

Ganz genau, aber wir reden nun einmal über Menschen. Sie interagieren in einer zunehmend komplexen, digitalen Umwelt – warum sollten wir erwarten, dass es einfache Kausalitäten gibt? Wir haben es mit multifaktoriell bedingten Störungen zu tun, und diese Komplexität besser zu verstehen, ist Aufgabe der Forschung. Sie soll dazu beizutragen, Therapien und Präventionen zu verbessern. Die Zusammenführung von Grundlagenforschung und klinischer Anwendung ist ein wichtiger Teil dieses Kongresses.

Ihr Symposium auf dem Kongress drehte sich um das sogenannte I-Pace-Modell.

Das Modell versucht, die Hauptprozesse zusammenzufassen, die auf psychologischer Ebene der Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens zugrunde liegen. Im Verlauf von Suchtstörungen ändert sich das Zusammenspiel zwischen emotionsgeladenen Prozessen und der Selbstkontrolle. Wir generieren anhand des Modells Hypothesen und prüfen dann in der klinischen Anwendung, was stimmt und was nicht stimmt.

In Ihrem Vortrag haben wir die Log-in-Seiten von Shopping-Applikationen und sozialen Netzwerken gesehen. Sie werden Probanden gezeigt, um deren Reaktionen zu testen. Die hochmoderne Technologie trifft auf ein menschliches Gehirn, das genauso funktioniert wie vor Millionen von Jahren?

Evolutionär betrachtet ändert sich das Gehirn nicht so schnell. Wir haben darin noch sehr frühe Anteile, die dem Bewusstsein nicht richtig zugänglich sind und die einen starken Trieb vermitteln können. Unser Hirn reagiert mit Belohnungsgefühlen auf Verhaltensweisen, die evolutionär wichtig waren. Das betrifft Sexualität, die Aufnahme guter Nahrung, aber auch Abenteuer oder Fortschritt. Diese Belohnung suchen wir uns jetzt in der digitalen Umwelt. Aber gleichzeitig ist jedes Hirn auch lernfähig und passt sich an. Das kann dysfunktional sein, indem Substanzen konsumiert oder Verhaltensweisen ausgeführt werden, die kurzfristig Belohnung vermitteln, langfristig aber schädlich sind. Genauso kann man dem aber auch therapeutisch entgegenwirken. Psychotherapie ist nichts anderes als ein Lernprozess auf Hirnebene.

Nimmt die dysfunktionale Belohnung in der modernen Gesellschaft immer stärker zu?

Ja und nein. In der Pandemie hat das Suchtverhalten zugenommen. Aber wir müssen abwarten, ob diese Entwicklung auch wirklich kausal ist. Insgesamt haben in den vergangenen 20 Jahren die Verhaltenssüchte zugenommen, zumindest die moderneren Verhaltenssüchte. Die Kaufsucht gab es allerdings schon immer, auch die Spielsucht.

Liegt diese Zunahme an den neuen technologischen Angeboten oder an größeren Problemen im Umgang mit unserer Umwelt?

Vermutlich beides. Applikationen verstärken möglicherweise das Suchtverhalten, weil sie mit sehr individualisierten Belohnungsgefühlen arbeiten. Shopping ist immer verfügbar, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Der Aspekt der sogenannten intermittierenden Verstärkung ist noch stärker: Ich weiß nie, ob ich beim Weitersuchen nicht doch noch ein Produkt finde, das noch günstiger ist und mir noch besser gefällt. Da ist die Offline-Welt endlicher. Genauso bei Pornografie: Im Vergleich zu einer DVD oder einem Video gibt es jetzt schier endloses Material. Trotzdem darf man die neuen Medien nicht verteufeln. Sicher mehr als 95 Prozent der Menschen nutzen Shopping-, Pornografie- oder andere Seiten, ohne ein Problem zu haben.

Hat eine Suchtform in den vergangenen Jahren besonders stark zugenommen?

Aus meiner Perspektive sind fünf Verhaltensmuster gleichwertig, nämlich die Glücksspielstörung, die Computerspielstörung, die Pornografienutzungsstörung, die Kauf-Shopping-Störung und die problematische Nutzung sozialer Netzwerke. In der Berichterstattung mag es manchmal Schwerpunkte geben, in der klinischen Relevanz sind diese Suchtstörungen aber gleichwertig.

Pornografische Aufnahmen auf einem Handy. Guardia Civil

Funktionieren die verschiedenen Suchtformen im Prinzip alle gleich?

Laut dem aktuellen Forschungsstand gehen wir von grundlegenden gemeinsamen Mechanismen aus. Es kommen aber jeweils spezifische Risikofaktoren hinzu. Jemand mit hohen Materialismuswerten beispielsweise entwickelt eher eine Kauf-Shopping-Störung. Jemand mit großer Abenteuerlust eher eine Computerspielstörung.

Welche Rolle spielt Verhaltenstherapie, welche Rolle Medikamente?

Verhaltenstherapie ist aktuell der Goldstandard. Es gibt für die Verhaltenssüchte noch keine spezifische Medikamentenzulassung. Die Verhaltenstherapie wird zwar teilweise medikamentös unterstützt, aber insbesondere dann, wenn zusätzliche Störungen vorliegen, also beispielsweise eine Depression oder Angststörung.

Kann man denn prinzipiell von allen Verhaltensweisen süchtig werden?

Es müssen starke, also möglicherweise evolutionär angelegte Belohnungsgefühle ausgelöst werden. Bei einer Applikation zur Buchung eines Bahntickets ist schwer vorstellbar, dass es so viel Spaß macht, dass man das immer und immer wieder nutzen will. Man kann also nicht von allem süchtig werden. Wir alle wollen Belohnungsgefühle haben, und deswegen ist es auch naheliegend belohnendes Verhalten auszuführen. Gleichzeitig muss man sich selbst beobachten und sich dabei fragen: Nehme ich dafür die negativen Konsequenzen in Kauf? Es geht also um eine Balance, darum, sich solche Belohnungen zu erlauben, die einem wirklich, auch längerfristig, guttun.

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