Mallorca Zeitung

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"Jeder Schritt schmerzt, als würde ich auf glühende Nägel treten": Mallorcas härtester Volksmarsch im Selbstversuch

Lluc a Peu geht von Palma bis zum Kloster Lluc. Das sind 48 Kilometer ohne Pause. Zwei MZ-Mitarbeiter waren dabei. Ob sie ins Ziel gekommen sind?

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So sah Mallorcas härteste Nachtwanderung "Lluc a Peu" 2023 in Bildern aus Laura Heeb

Ralf Petzold: Jeder Schritt schmerzt, als würde ich auf glühende Nägel treten. Seit Binissalem fühlt sich der hintere Oberschenkel gezerrt an. Mit letzter Kraft schleppe ich mich nach Selva. Kurz ausruhen und auf die ausstehenden 13 Kilometer zum Kloster Lluc vorbereiten. Kaum liege ich auf dem Gehweg und habe die Beine hochgelegt, damit das Blut in den Körper zurückläuft, treibt einer der Freiwilligen des Volksmarschs Lluc a Peu die stöhnende Menge an Wanderern an. „Was ist nun? Weiterlaufen oder nicht? Ich muss die Straße wieder aufmachen.“ Wie weit es denn noch sei, fragt ein junger Kerl. „Fünf Minuten“, scherzt der Freiwillige. „Wobei es in deinem Zustand eher fünf Stunden sind.“

In Selva, bei der letzten Pausenstation der Wanderung Laura Heeb

Wer kam auf die Idee

Es gibt Dinge, die man im Leben gemacht haben muss. Ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen und ein Haus bauen. Auf Mallorca dürfte auf der Liste relativ schnell der Fußmarsch nach Lluc folgen. Toni Güell hatte im Juli 1974 erstmals die Idee. Der Besitzer der nach ihm benannten Bar in Palma hatte geschworen, zu Fuß bis zum Kloster zu laufen, wenn seine Tochter einen Unfall heil übersteht. Das Kind war damals auf einen Siphon aus Glas gefallen. Der Tochter ging es danach wieder gut, also stiefelte Güell los und gründete somit ein seither jährliches Event.

4.000 Leute haben sich für die 50. Ausgabe des Marschs in der Nacht auf Sonntag (6.8.) angemeldet. „Hinzu kommen 3.000 Leute, die ohne Startnummer mitlaufen. Jeder Dritte schafft es nicht“, sagte Organisator Francisco Bauzá, der die 48 Kilometer selbst nie gelaufen ist. „Es sind erstaunlich viele Ausländer dabei. Auch Familien mit Kindern trauen sich.“ Um 23 Uhr gibt Bauzá den Startschuss auf der Plaça Güell. „Ihr braucht euch nicht zu beeilen“, gibt er der Menge noch auf dem Weg. Und wie er sich damit irrt.

Von Anfang an das Schlusslicht

Laura Heeb: Acht bis 13 Stunden dauert der Marsch, heißt es auf der Website. Als Vorbereitung habe ich den ganzen Tag nur geschlafen. Am Startpunkt treffe ich meinen MZ-Kollegen und seine Freundin. Ein Freund aus England soll noch kommen, doch seine Uhren scheinen nach britischer Zeit zu gehen. Verschlafen kündigt er auf meinen Anruf hin an: „Bin in zwei Minuten da.“ Er kommt so spät, dass die Helfer schon dabei sind, die Absperrungen am Start abzubauen. Wir beginnen unsere Pilgerreise als Schlusslicht. Ich habe genug Essen für eine Familie dabei: ein Kilo Nudeln, Müsliriegel, Äpfel, ein Brot, Wasser, Saft und Kaffee. Außerdem Kopfhörer, ein Buch, ein Ladegerät, denn man weiß ja nie, und Sonnencreme. Andere um mich herum scheinen spartanischer ausgerüstet zu sein. Manch einer läuft in Sandalen, andere sparen sich die Kopfhörer und lassen die Musik aus Lautsprechern dröhnen. Wer die Musik laut hört, braucht keine Kopfhörer mitzubringen.

Der Startpunkt der Wanderung an der Placa Güell in Palma MANU MIELNIEZUK

Über den Carrer d’Aragó geht es mitten auf der Fahrbahn stadtauswärts. Die Strecke ist für den Marsch gesperrt. Vom Gehweg und von Balkonen aus jubeln uns die Menschen zu. Wir sind wie Boxer, die sich durch die Menge ihren Weg zum Ring bahnen. Ein Kampf wird es auf jeden Fall. Ich sichte im Teilnehmerfeld ehemalige Schüler aus meiner Vor-MZ-Zeit als Sprachassistentin. Ich traue mich nicht, sie zu überholen oder gar zu grüßen. Später werden wir uns gegenseitig anfeuern und scherzen. Noch kann ich mir das nicht vorstellen.

Nach einer Stunde laufen wir am alten Flughafen entlang, wenig später durch Marratxí. Als wir Palmas Speckgürtel verlassen, wird es dunkel. Obwohl der Mond dermaßen hell leuchtet, dass es Schatten wirft, sehen wir noch vor Santa Maria die erste von etlichen Sternschnuppen. Wie viele Leute sich wohl jetzt wünschen, schon in Lluc angekommen zu sein? Der romantische Abendspaziergang wird vom Blaulicht gestört. Sehr viele Rettungswagen begleiten die Menge und fahren immer wieder im Schritttempo neben uns her. Irgendwo bemerkt jemand, dass er sich kaum an eine so kühle Nacht in den vergangenen Wochen erinnern kann.

Unter Zeitdruck pausieren

Ralf Petzold: Nach knapp drei Stunden bietet sich eine Tankstelle kurz vor Santa Maria für die erste Pause an. Beine in die Luft strecken, Socken wechseln, und weiter geht’s. Wenige Meter vor dem Ortseingang gibt das erste Kind auf. „Die paar Meter hättest du auch noch schaffen können“, beschwert sich der Vater, der den Sohn nun tragen muss. Im Ort ist der erste offizielle Verpflegungspunkt. Ehrenamtliche geben einen Stempel auf eine Karte, der beweist, dass man wirklich da war. Ein Bus steht für die Leute parat, die aufgeben wollen.

Nach vier Stunden und 22.700 Schritten erreichen wir Consell. Der Weg durch das doch eher beschauliche Dorf zieht sich in die Länge. Die ersten Wanderer liegen auf der Straße. Beliebt ist ein Storchenschritt, um die Beine mal ein wenig anders zu bewegen. Die Knie fühlen sich schwammig an, die Füße wie Steine. Ich schleudere die Beine bei jedem Schritt nach vorne und hoffe, dass der Körper hält. Als wir in Binissalem den nächsten Punkt auf der Karte erreichen, ist die Freude groß.

Sie währt nur kurz. Beim neuerlichen Beinehochlegen sticht es plötzlich im Oberschenkel. Ein Ehrenamtlicher scheucht uns weiter. Trotz der Schmerzen geht der nächste Abschnitt zügig. Wohl auch, weil wir uns ständig fragen, ob wir uns verlaufen haben. Das Blaulicht ist auf einmal weg. Wir folgen blind den Glühwürmchen der anderen Wanderer mit ihren blinkenden Lämpchen. Statt wie auf der Karte aufgemalt geht es nicht nach Inca, sondern nach Lloseta rein. „Sind wir hier richtig?“, fragt ein Argentinier verzweifelt.

Selva im Licht des Sonnenaufgangs Laura Heeb

„Das fragen uns alle“, sagt eine Ehrenamtliche am Verpflegungspunkt in Lloseta. „Da haben die dieses Jahr Mist gebaut.“ Von Lloseta geht es danach direkt nach Selva weiter. „Auf in den Tod. Die letzten Kilometer sind die schlimmsten“, ruft ein Ehrenamtlicher sarkastisch. Anderthalb Stunden sind es laut Google bis nach Selva. Erstmals geht es zwar eine Nebenstraße entlang, die man als Wanderweg bezeichnen könnte. Doch die Anstrengung sorgt dafür, dass ich mich kaum an krähenden Hähnen, bimmelnden Schafsglocken oder dem Sonnenaufgang ergötzen kann. Anders die MZ-Praktikantin, die im Hopserlauf springt und Fotos für Instagram macht. Wo nimmt sie wohl die Kraft her?

Auf der letzten Etappe trennen sich die Wege

Laura Heeb: Das Läuferhoch gibt es offenbar auch bei Wanderungen. In meinen Ohren dröhnt „Mamma Mia“, während die Welt langsam wieder bunt wird. Plötzlich ist alles schön. Die Blätter der Bäume riechen nach Natur pur. In der Ferne ist die Bucht von Alcúdia zu sehen. Links die Berge, rechts das Meer und dazwischen unsere kleine Truppe. Ich zücke mein Handy und rufe meine Eltern in Deutschland an. „Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, murmelt mein Vater noch im Halbschlaf. 6 Uhr morgens kommt mir nicht früh vor, denn irgendwo in der Nacht zwischen Sternen, Glühwürmchen und Blaulicht habe ich das Zeitgefühl verloren. Meine Eltern bitten mich höflich, doch lieber Videos zu machen und sie später zu schicken.

Auch dieses ältere Ehepaar meisterte die Anstrengung. Laura Heeb

Ralf Petzold: Anhalten ist nicht. Ein Rettungswagen verfolgt uns wie eine Kehrmaschine. „Bitte weitergehen“, sagt der Beifahrer. So fällt die Pause auch in Selva kurz aus. Ich mühe mich nach dem Sockenwechsel hoch und mache drei Schritte gen Berg. Schnell wird mir klar: Das wird nichts mehr. Drei Stunden sind es bei zügigem Schritt nach Lluc. Die Gefahr ist groß, die letzte vom Veranstalter organisierte Rückfahrgelegenheit zu verpassen. Wie Zombies schleppen meine Freundin und ich uns zum Bus der Aufgeber. Die Praktikantin muss die MZ-Ehre retten. 45.000 Schritte habe ich in acht Stunden gemacht. Das ist sonst mein Wochendurchschnitt.

Nach elf Stunden angelangt in Lluc. Laura Heeb

Laura Heeb: Die Straße zum Kloster ist der schönste, aber auch unangenehmste Abschnitt der Wanderung. Die Sonne wärmt inzwischen. Die Serpentinen scheinen endlos. Hin und her und doch kaum höher. Langsam gehen uns die Gesprächsthemen aus. Gegen 9 Uhr bemerke ich einen Hubschrauber. Er kreist von Lluc aus über uns, wahrscheinlich um zu sehen, dass auf den letzten Metern keiner verletzt am Wegesrand liegen bleibt. Nach elf Stunden Marsch kommen wir fast als Letzte um 10 Uhr im Kloster an. Wir holen uns unsere Teilnehmer-Urkunde ab, kaufen ein Eis. Die kostenlose Massage, die angeboten wird, ist zu weit weg. Ganze zehn Meter sind nicht mehr drin. Dann ist es an uns, im Schatten der Bäume die Beine hochzulegen.

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