Mallorca Zeitung

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Der Bürgerkrieg, eine "Adoption" und ein lebenslanges Geheimnis

Mit sieben Jahren fand sie sich in einer fremden Familie wieder: Jaume Clar Lorente verarbeitet das Drama seiner Mutter in einem Roman, der jetzt einen Preis erhalten hat

Rafaela, die Mutter von Jaume Clar, in jungen Jahren (li.). l Enriqueta, die Großmutter, die der Autor nie kennenlernte (re.). | FOTOS: PRIVAT

Enriqueta sitzt vor dem Eingang zum Pfarrhaus von Alaró, während drinnen über ihre Zukunft entschieden wird. Die 27-Jährige ist gerade von Barcelona nach Mallorca gekommen, mit ihren zwei kleinen Kindern und sonst nichts. Ihr Mann aus Sevilla ist im gerade zu Ende gegangenen Bürgerkrieg gefallen, das gemeinsame Haus auf dem Festland von Fliegerbomben zerstört worden. Hier auf der Insel gebe es Arbeit, hat sie gehört. Und tatsächlich wird ihr über die Pfarrei von Alaró eine Stelle angetragen. Man wolle eine Lösung für sie und auch ihre Kinder suchen, Vicente und Rafaela.

Aber der Preis, der ihr dafür abverlangt wird, erscheint ihr als eine Beleidigung, als schlechter Scherz, als weitere schwere Prüfung Gottes. Wird sie eines Tages wieder erhobenen Hauptes auf die Straße gehen können, ohne sich als schlechte Mutter zu fühlen?

Die Szene aus dem Jahr 1939 beschreibt Jaume Clar Lorente in seinem Buch „Muñeca de Trapo“ (Stoffpuppe). Der Mallorquiner ist der Enkel von Enriqueta. Von der Identität seiner Großmutter erfuhr er erstmals 2019, als er zufällig in alten Unterlagen auf die Geburtsurkunde seiner Mutter Rafaela stieß, ausgestellt in Murcia, auf dem spanischen Festland. Da wurde ihm klar, dass er eigentlich nichts über die Herkunft und Kindheit seiner Mutter wusste. Nie hatte sie von sich erzählt. Und als er einmal als Kind gefragt hatte, warum denn keiner ihrer Nachnamen von den Großeltern mütterlicherseits stammte, wie sonst üblich, antwortete sie nur ausweichend. Das Thema war tabu.

Lebenslanges Tabu

Was war geschehen, damals kurz nach Bürgerkriegsende? Wie war seine Mutter Rafaela auf Mallorca gelandet? Und wer waren die Personen, die in der Geburtsurkunde der Mutter als deren Eltern und somit als seine Großeltern genannt waren? Hat ihr Schicksal gar etwas mit den Fällen von Babyraub oder Zwangsadoptionen unter Franco zu tun, die in den vergangenen Jahren ans Licht kamen?

„Ich will deine Geschichte erfahren“, sagte Jaume Clar Lorente zu ihr, vor drei Jahren, mit der Geburtsurkunde in der Hand. Und Rafaela Lozano, die ihr Leben lang geschwiegen hatte, begann zu erzählen.

„Es war, als würde eine tonnenschwere Last von ihr abfallen“, erinnert sich der Autor an jene Situation, als er sich mit der MZ in einem Café in Alaró trifft. So, als nähme sie einen Rucksack ab, in dem sie alle Erinnerungen ihres früheren Lebens hineingepackt hatte – eine Last, die sie über all die Jahre mit sich schleppte und deren Inhalt sie weder ihrem Mann, noch ihren Kindern jemals zeigte. Bis zu diesem Zeitpunkt. Sie habe ihm in die Augen geschaut und gelächelt. „Es war der Moment gekommen, den Teil von sich preiszugeben, der ein Leben lang verhinderte, restlos glücklich zu sein.“

Der pensionierte Bankmitarbeiter ist eigentlich kein Schriftsteller, aber ein leidenschaftlicher Leser. Jetzt, als Rentner, begann er, die Geschichte seiner Mutter niederzuschreiben, zunächst für sich selbst und seine Familie. Er besuchte Archive in Barcelona, Sevilla, Murcia. Das Ergebnis, das schließlich doch als Buch erschien, ist keine Dokumentation, sondern ein historischer Roman. Der Verlag Círculo Rojo hat ihn als bestes Werk in der Kategorie Geschichte und Forschung ausgezeichnet.

Das Buch erzählt zunächst die Geschichte von Enriqueta und Francisco, den unbekannten Großeltern. In einem zweiten Teil des Romans geht es dann um Rafaela, seine Mutter. Auf einer zweiten Ebene flechtet Jaume Clar darüber hinaus seine eigene Perspektive ein, seine Nachforschungen in der Jetztzeit, aber auch persönliche Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Alaró.

„Ich habe einen Roman geschrieben, wie ich ihn gern gelesen hätte“, so der Autor. Der Unfalltod von Gaudí 1926, die Weltausstellung in Barcelona 1929, die Belagerung von Toledo 1936 – die historischen Ereignisse sind Kulisse für eine Familiengeschichte, die die ganze Dramatik des Bürgerkriegs widerspiegelt.

Was passiert war

Enriqueta wächst nach dem Tod der Eltern zusammen mit ihren Schwestern in Barcelona auf und trägt mit Näharbeiten zum Auskommen bei. Der jungen Frau lungert ein Unbekannter auf und vergewaltigt sie. Sie wird schwanger. Im Jahr 1929 kommt ihr Sohn Vicente zur Welt. Kurz darauf lernt sie Francisco kennen, einen Soldaten aus vermögender Familie in Sevilla, der in Barcelona stationiert ist. Die Stadt bietet ihm auch eine Zuflucht vor seiner herrschsüchtigen Mutter, deren größte Sorge es ist, ihren Sohn standesgemäß zu verheiraten. Enriqueta und Francisco verlieben sich ineinander. Der Sevillaner macht Enriqueta einen Heiratsantrag, trotz des gesellschaftlichen Makels einer ledigen Mutter, und nimmt dabei auch in Kauf, dass seine eigene Familie wegen der nicht standesgemäßen Beziehung mit ihm bricht.

Francisco wird nach Murcia versetzt, die junge Familie kauft sich ein Haus, im Jahr 1932 kommt Tochter Rafaela zur Welt. Doch dann wird der Soldat lebensgefährlich verletzt, als er Kameraden nach einer Gasexplosion rettet. Der Bürgerkrieg beginnt, Francisco muss für das republikanische Lager an die Front. Er wird von einer Kugel tödlich getroffen. Als dann auch noch Bomben das gemeinsame Haus zerstören, kehrt Enriqueta zu ihren Schwestern nach Barcelona zurück. Sie kommt dort bis zum Ende des Krieges im Jahr 1939 unter, bevor sie auf Mallorca ihr Glück suchen wird.

Was dann in der Pfarrei von Alaró ersonnen wird, ist aus heutiger Sicht haarsträubend, war damals aber nur eines von vielen Schicksalen, meint Jaume Clar. Da ist einerseits eine mittellose Frau mit zwei Kindern, die Witwe eines republikanischen Soldaten im beginnenden Franco-Regime. Da ist andererseits das kinderlose Paar, das die Bäckerei von Alaró betreibt und sich Sorgen um seine Versorgung im Alter macht. Die verbitterte Bäckersfrau bittet den Ortspfarrer Gabriel Server um Vermittlung einer Adoption. Und dieser nutzt die Lage von Enriqueta aus, um sie zu überreden, gegen einen Job als Haushälterin beim Arzt in Alaró sowie einen Geldbetrag das Sorgerecht für ihre siebenjährige Tochter abzutreten. „Wir leben in einer Zeit großer Opfer, Gott hat eine Lösung für deine Situation“, sagt er zur verzweifelten jungen Frau. „Du kannst dich nicht um Rafaela kümmern. Du wirst schon sehen, das ist das Beste für alle Beteiligten.“ In der Bäckerei werde es ihrer Tochter an nichts fehlen, sie könne sie regelmäßig sehen. Sohn Vicente kommt indes als Feldarbeiter auf einer Finca unter.

Die Trennung von Mutter und Bruder, tägliche Tränen, die Schikanen der Pflegemutter, deren Strategie, das Kind von der leiblichen Mutter zu entfremden – das Buch arbeitet das Trauma auf, das Rafaela durchlebte. Die Stoffpuppe aus dem Titel, sie ist nicht nur Teil der Handlung, sie beschreibt auch das Gefühl, einfach abgegeben zu werden, ähnlich einem Gegenstand.

Der Roman endet im Jahr 1962. Die Fortsetzung im wirklichen Leben: Mutter und Tochter sollten sich nie wiedersehen, obwohl sie nur wenige Kilometer auseinander wohnten. Und Rafaela sollte ihre „Adoptiveltern“ tatsächlich in deren Alter pflegen. Mit ihrer Sorge, wer sich einmal um sie kümmern werde, sei die Bäckersfrau nur ein Kind ihrer Zeit gewesen, gibt Clar zu bedenken. Das Gleiche gelte auch für seine Mutter und seine Großmutter, sie seien „Opfer der Umstände“. Das Buch ist eine Hommage an beide Frauen. Niemand dürfe sich ein Urteil erlauben, weil niemand heute wissen könne, wie er selbst in den damals extremen Zeiten und angesichts existenzieller Not gehandelt hätte.

Die Nachforschungen führten den Autoren nach Puigpunyent, wo seine leibliche Großmutter bis zuletzt gelebt hatte. Und er lernte eine ihm bislang unbekannte Cousine kennen, die Tochter des inzwischen ebenfalls verstorbenen Bruders seiner Mutter. Vor allem für sie, für Rafaela, seien die zwei Jahre der Aufarbeitung intensiv gewesen, so der Autor: Die Erzählungen von früher, der Besuch am Grab von Mutter und Bruder sowie das Erscheinen des Romans hätten die inzwischen 86-Jährige verändert.

Der Schatten, der stets über dem Gesicht seiner Mutter gelegen habe, sei verschwunden. „Sie ist heute ein fröhlicher Mensch.“

 

Historischer Roman

Jaume Vicenç Clar Lorente: „Muñeca de Trapo“

Editorial Círculo Rojo

467 Seiten, Spanisch, 20 Euro

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