Mallorca Zeitung

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Musikalisches Wunderkind von Mallorca: Warum musste "Chocolate" mit 13 Jahren sterben?

Das Buch „Ahir enterràrem un nin a Ciutat“ von Tomeu Canyelles begibt sich noch einmal auf Spurensuche nach dem Gitano-Jungen, dessen Leichnam 1978 auf einer Toilette gefunden wurde

Chocolate (li.) bei seinem spontanen Auftritt beim Festival Selva Rock im August 1977. | FOTO: OLEGUER ARMENGOL

So richtig wusste keiner, wie dieser schmächtige Junge auf die Bühne gekommen war. Plötzlich stand er da, gerade mal zwölf Jahre alt, vor Hunderten Zuschauern bei der ersten Ausgabe des Festivals Selva Rock im August 1977 und fing an zu singen. Und wie er sang. „Einzig Chocolate [...] schaffte es, das Publikum zu begeistern“, schrieb die MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca“ in den Konzertbericht. Es war das erste Mal, dass José Esteves de Concepción – so Chocolates bürgerlicher Name – in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Ein Gitano-Junge mit viel Charisma und beachtlichem Talent. Womöglich hätte etwas Großes aus ihm werden können. Doch keine neun Monate später, im April 1978, war er tot.

Cover der zweiten Auflage von „Ahir enterràrem un nin a Ciutat“. F: Illa Edicions

Seine Biografie „Ahir enterràrem un nin a Ciutat“ (Gestern haben wir einen Jungen in Palma beerdigt) ist nun in zweiter, erweiterter Auflage erschienen. Der Autor, Historiker Tomeu Canyelles, stieß im Jahr 2012 eher zufällig auf die Geschichte. „Ich wühlte in Zeitungsarchiven, um mehr über das Selva Rock zu erfahren, was eines der ersten Musikfestivals nach Ende der Diktatur war.“ Canyelles recherchierte ein wenig zu der Geschichte des Jungen und veröffentlichte einen Artikel im mittlerweile eingestellten, mallorquinischen Onlineportal „40 putes“. „Aber die Geschichte ließ mich nicht los. 2019 beschloss ich, meinen Fragen nachzugehen und das Buch zu schreiben.“

Herausgekommen ist nicht nur die Geschichte über ein kurzes und äußerst intensives Leben. Das Buch lässt einen in das Mallorca Ende der 70er-Jahre eintauchen. Eine Insel, die befreit von den Fesseln der Diktatur zu sich selbst finden muss. Und mittendrin befindet sich dieser kleine Junge, der in Puig de Sant Pere, dem Viertel zwischen dem heutigen Museum Es Baluard und der Plaça Drassanes aufwächst. Ein Lebenskünstler, wenn es je einen gegeben hat.

Immer am richtigen Ort

„Das Faszinierende an Chocolate ist, dass er anscheinend überall war, wo gerade etwas passierte“, sagt Canyelles. Und tatsächlich: In den Musikkneipen von Palma ging er ein und aus. Als Umweltaktivisten das Eiland Dragonera besetzten, um zu verhindern, dass es bebaut wird, war er auch mit am Start. Die Künstlerszene in Deià um Robert Graves und Mati Klarwein? „Ich weiß nicht, wo er hergekommen war, aber da war er plötzlich, bewegte sich in dieser Szene wie ein Fischchen im Wasser“, erinnert sich Graves’ Sohn Tomás in dem Buch.

Dabei hatte Chocolate alles andere als die besten Voraussetzungen. Mit seiner Familie war er aus dem nordspanischen Asturien als Kind auf die Insel gekommen. Die Vorfahren stammten aus Portugal. Die Familie lebte in Armut. Chocolate war bis kurz vor seinem Tod Analphabet.

Das kompensierte er mit seinem Charme und seiner Cleverness. Zeitzeugen schildern, dass er sich herumtrieb, wo es ihm gerade passte. Er klaute, er rauchte und hier und da verführte er in seinen jungen Jahren auch mal ältere Frauen. Vor allem aber machte er Musik. Das war nicht nur der Liebe zur Kunst geschuldet. Seine Familie hatte früh erkannt, dass der Junge ein außergewöhnliches Talent hatte. Es habe eine große Erwartungshaltung vonseiten der Familie gegeben, erzählen Freunde in dem Buch. Man habe die Begabung des Jungen als Weg aus der Armut betrachtet.

Viele Unbekannte

Das Buch lässt viele Fragen offen – gezwungenermaßen. Die Geschichte eines Jungen zu recherchieren, der vor über 45 Jahren gelebt hat und sich vor allem abseits des Rampenlichts bewegt hat, ist keine leichte Aufgabe. Einige Zeitzeugen hätten es abgelehnt, für das Buch interviewt zu werden, erzählt Canyelles.

Es sind vor allem die Schattenseiten im Leben Chocolates, bei denen viele Fragen offen sind. Schattenseiten, die sich bei seinem frühen Tod offenbarten. Am 30. April 1978 fand ein Wachmann den Leichnam des Jungen in einer öffentlichen Toilette, die es damals unterhalb der Kathedrale im Parc de la Mar gab. Der Körper lag in einer ungewöhnlichen Stellung, wie als ob man eine Puppe in die Ecke geworfen habe.

Woran starb der Junge?

Die Gerüchteküche brodelte schnell. Die offizielle Version war, dass Chcocolate an einer Vergiftung starb, ein damaliger Euphemismus für Überdosis. Die Heroinwelle, die in den 80er-Jahren Hunderte Leben auf Mallorca forderte, war damals noch in den Kinderschuhen. Chocolate wäre einer der ersten Herointoten der Insel gewesen. Aber viele Zeitzeugen glauben nicht daran.

Chocolate auf einem Archivbild DM

Eine andere Theorie besagt, dass Chocolate sich prostituierte. Der Bereich unterhalb der Stadtmauer bei der Kathedrale war als Treffpunkt für Stricher berüchtigt. Zudem lag gerade ein amerikanisches Kriegsschiff im Hafen. Es sei nicht auszuschließen, dass Chocolate den Marines sexuelle Dienstleistungen angeboten hätte. Und dann ist da noch die Theorie, dass der Junge, der jeden kannte und sich in vielen gesellschaftlichen Kreisen bewegen konnte, über Informationen verfügte, die anderen gefährlich werden konnten. Dieses Wissen habe er mit dem Tod bezahlt.

Die Presse findet schnell Schuldige

Nach seinem Tod machte die Presse schnell Schuldige aus: Die links-alternative Szene, mit der Chocolate immer wieder zu tun hatte, habe ihn wie ein Äffchen für drei Groschen singen lassen und ihn in einem schweren Moment fallen gelassen. Eine krude Theorie. Aber als Chocolates Freunde aus Palma zu seinem Andenken ein Konzert organisierten und seine Musiker-Freunde in Deià anfragten, wollte keiner was damit zu tun haben.

„Ahir enterràrem un nin a Ciutat“ ist ein faszinierendes Buch, das das Zeug hat, weit über die Insel hinaus für Interesse zu sorgen. Es wirkt wie eine Mischung aus „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und „Huckleberry Finn“, begleitet von der Rumba der gitanos. Der bekannte mallorquinische Dramaturg Rafel Gallego arbeitet derzeit an einer Adaption für das Theater. Das Stück soll in den kommenden Monaten uraufgeführt werden.

Eine Woche nach dem Auftritt beim Selva Rock interviewte das „Diario de Mallorca“ Chocolate. Es ist ein eher kurzes Gespräch, bei dem es um seinen Spitznamen (den er seiner dunklen Haut verdankt) und Musik geht. In einem Moment sagte er zum Journalisten Damián Caubet: „Warte mal kurz. Ich ziehe mich um, dann reden wir weiter.“ Und dann ward er nicht mehr gesehen.

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