Mallorca Zeitung

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Mallorca-Psychologin erforscht in Bochum Psychosen bei Jugendlichen: „Jeder Vierte hört Stimmen“

Mar Rus Calafell aus Palma ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Forschung zu psychotischen Erfahrungen bei Jugendlichen. An der Ruhr-Universität leitet sie einen Lehrstuhl

Maria del Mar Rus Calafell am Donnerstag (21.9.) bei einem ihrer seltenen Mallorca-Besuche. GUILLEM BOSCH

Der mallorquinischen Psychologin Mar Rus Calafell ist zuteil geworden, was nur wenigen vergönnt ist: Die 39-Jährige aus Palma gewann 2020 den mit bis zu 1,65 Millionen Euro dotierten Sofja-Kovalevskaja-Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für ausländische Wissenschaftler in Deutschland. Mit dem Geld konnte Rus an der Ruhr-Universität Bochum einen Lehrstuhl sowie eine Forschungsgruppe aufbauen, mit dem sie seither psychotische Symptome bei Jugendlichen und insbesondere das Phänomen des Stimmenhörens untersucht und dafür neue, digitale Therapien entwickelt. Zu der deutschen Auszeichnung kommt nun noch eine mallorquinische hinzu: Die MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca“ verleiht ihr kommenden Mittwoch (4.10.) einen ihrer jährlichen Preise für herausragende Leistungen. Die MZ hat die Mutter einer kleinen Tochter bei einem Vorabbesuch auf der Insel getroffen.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass Jugendliche Stimmen hören?

Es gibt dafür nicht den einen Grund. Es kann an einer etwaigen biologischen Verletzlichkeit liegen. Es kann aber auch an traumatischen Erfahrungen liegen, die Einfluss darauf nehmen, wie eine Person Erlebtes verarbeitet. Akute Erlebnisse können dann dazu führen, dass diese Menschen keine Kontrolle mehr über die Stimmen haben. Möglich ist aber auch, dass depressive Symptome vorliegen. Die Tatsache des Stimmenhörens allein ist nicht besorgniserregend. Wir haben herausgefunden, dass es gar kein so seltenes Phänomen ist. Studien ergeben, dass etwa jeder Vierte zumindest einmal in seinem Leben derartige Stimmen hört. Das Problem ist, wenn diese Stimmen Unwohlsein hervorrufen. Vor allem dann, wenn die Betroffenen glauben, dass die Stimme von real existierenden Personen kommt, die versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen oder wenn diese Stimmen sehr negativ sind und man sie nicht beherrschen kann.

Warum bildet sich dieses Phänomen oft in der Pubertät aus?

Die meisten psychischen Störungen entwickeln sich in der Pubertät. 75 Prozent von ihnen liegen spätestens im Alter von 21 Jahren vor. Die Jugend ist eine wichtige Phase der sozialen Entwicklung. Wir lernen die Welt und uns selbst zu verstehen. Wir probieren vielleicht auch verschiedene Substanzen aus. Und es ist eine Zeit, in der wir sehr verletzlich sind, vor allem, wenn wir Ablehnung von anderen erfahren. Ganz zu schweigen von sexuellem oder psychologischem Missbrauch. Diese Erfahrungen prägen uns dabei, wie wir die Welt in Zukunft wahrnehmen. Es werden Denkmuster angelegt, die entscheiden, wie wir in Zukunft Information verarbeiten. Und wenn diese Form der Informationsverarbeitung fehlerhaft ist, führt das irgendwann zu einer Erkrankung. Diese zeigt sich dann meist bei Erwachsenen.

"Wir dürfen die Jugendlichen aber nicht verteufeln dafür, dass sie die Technologie benutzen. Sondern wir müssen ihnen zeigen, damit besser umzugehen."

Mar Rus Calafell - Wissenschaftlerin

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Hat die Corona-Pandemie hier als Brandbeschleuniger gewirkt?

Ja. Die Leute, die heute in diesem Alter sind, sind eine sehr soziale Generation. Sie sind sehr eng mit ihren Freunden verbunden. Das ging plötzlich nicht mehr. Diejenigen, die am meisten unter der Pandemie gelitten haben, waren und sind aber die, die bereits davor Schwierigkeiten im Umgang mit anderen oder mit sich selbst hatten. Negativ bemerkbar gemacht hat sich zudem eine Abhängigkeit von Bildschirmen oder Smartphones bedingt durch die Isolation. Wir dürfen die Jugendlichen aber nicht verteufeln dafür, dass sie die Technologie benutzen. Sondern wir müssen ihnen zeigen, damit besser umzugehen. Das ist einer der Ansätze meiner Forschung.

Es scheint ein Widerspruch zu sein, Schwierigkeiten im Umgang mit anderen ausgerechnet mit Technologie zu behandeln. Erklären Sie uns bitte, wie das funktionieren soll.

Wir sehen die Technologie als Vermittler zwischen der Person und der realen Welt. Wenn wir von virtueller Realität im sozialen Umfeld sprechen, wollen wir dabei helfen, sich dieser Situation im Umgang mit anderen zu stellen. Nach dem Motto: Wir wissen, du hast damit Schwierigkeiten, also bearbeiten wir das nun digital und übertragen es später auf den Umgang mit anderen Menschen. Nicht, damit du dich weiter in der virtuellen Welt abkapselst, sondern um dich auf das wirkliche Leben vorzubereiten. Mithilfe der Kommunikation mit einem plastischen Objekt können die Jugendlichen etwa die Stimmen besser kontrollieren, die sie hören.

Wie läuft die Therapie genau ab?

Wir arbeiten mit Computer-Avataren, die ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, mit dem sie bei den Jugendlichen Symptome auslösen können. Wir setzen die jungen Menschen diesem Avatar aus, und wenn das Symptom auftritt, geben wir ihnen Tipps, wie sie handeln könnten, um diese Symptome zu vermeiden. In einem zweiten Fall verfügen wir über einen Avatar, der die Stimme repräsentiert, die die jungen Leute hören. Das bedeutet, sie sitzen quasi ihrer eigenen inneren Stimme gegenüber. Unsere nächste Studie in Bochum verbindet diese beiden Ansätze. Die Patienten interagieren mit dem Avatar, hören aber gleichzeitig die Stimme und lernen so, wie sie im Umgang mit anderen diese Stimme beherrschen können. Und wenn man das in dieser Situation gelernt hat, dann weiß man, wie man im wirklichen Leben damit umgehen muss, wenn man die Stimme hört. Die Stimme kommt dabei aus einem Kopfhörer, der Avatar ist über einen Bildschirm dargestellt.

Wie kommen Sie an Ihre Probanden?

Auf zweierlei Arten: Zum einen haben wir Kontakt zu Kliniken und bekommen Jugendliche mit klinischen Befunden vermittelt, die sich aber auch selbst bei uns melden können. Zum anderen arbeiten wir viel mit sieben Schulen und anderen Bildungseinrichtungen im Ruhrgebiet zusammen, an denen wir auch Workshops zum Thema psychische Gesundheit anbieten. Die jungen Menschen sind unglaublich interessiert daran.

"Auch im Bildungssystem muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die psychische Gesundheit genauso wenig eine Modeerscheinung ist wie die häusliche Gewalt oder der Klimawandel."

Mar Rus Calafell - Psychologin

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Was haben Ihre Studien bisher ergeben?

An den Schulen haben wir gesehen, dass es mehr junge Leute gibt, als wir dachten, die bereits mit Psychosen Erfahrung haben, die aber noch keine Hilfe in Anspruch nahmen. Und wir haben festgestellt, dass gerade die, die diese Erfahrungen hatten, Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen haben. Mit anderen Kontakt zu haben, löst bei ihnen Symptome aus wie das Hören von Stimmen, Wahnvorstellungen oder auch, besonders häufig und negativ, eine fast komplette Antriebslosigkeit. In den klinischen Studien haben wir dann gesehen, dass man den Alltag der jungen Leute mit Hilfe der Avatar-Therapie verbessern kann. Wir haben festgestellt, dass das Thema psychische Gesundheit bei den jungen Leuten kein Tabu ist. Ein Stigma tritt vor allem dann auf, wenn sie mit Erwachsenen darüber sprechen. Wir haben es mit einer jungen Generation zu tun, die Hilfe in Anspruch nehmen will und die nicht glaubt, dass sie mit psychischen Problemen schwächer ist. Und das, obwohl ich glaube, dass es in Europa Länder gibt, die heute schon offener mit dem Thema mentale Gesundheit umgehen als Deutschland. Das ändert sich aber auch dort gerade spürbar. Und es sind die jungen Leute, die diesen Wechsel herbeiführen.

Wie können Eltern ihre Kinder in dieser Phase unterstützen?

Es ist wichtig, den Kindern aktiv zuzuhören, bei positiven wie negativen Erfahrungen. Wenn ein Kind kommt und sagt: Ich bin traurig, ich fühle mich in meinem Körper nicht wohl, hilft es nicht zu antworten: Das wird schon vorbeigehen. Wichtig ist, keine Angst davor zu haben, auch mal zu sagen: Warum reden wir da nicht mit jemandem drüber, holen uns Hilfe von außen? Wenn die Kinder diese Sicherheit des offenen Gesprächs nicht haben, können sie sich absondern. Und je mehr sie sich isolieren, desto schneller wird das Problem groß. Auch im Bildungssystem muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die psychische Gesundheit genauso wenig eine Modeerscheinung ist wie die häusliche Gewalt oder der Klimawandel.

Ein Projekt wie Ihres, das dank des Millionen-Stipendiums nun über fünf Jahre geht, dürfte sich fast wie der Hauptgewinn der Weihnachtslotterie anfühlen.

Es gibt mir und dem Team viel Sicherheit. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht darauf ausruhen und brauchen weiterhin Unterstützung. Wir sind jetzt im dritten Jahr des Projekts, haben etwa bei der Deutschen Forschungsgesellschaft Mittel beantragt und uns für europäische Stipendien beworben. Es ist eine große Last, schon nach dem ersten Jahr weiteres Geld für die Zukunft organisieren zu müssen. Zum Glück gibt es auch noch ein Stipendium des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit, das an sechs Universitäten vergeben wurde, darunter Bochum. Da gibt es 30 Millionen Euro in fünf Jahren für psychische Gesundheit. Im wissenschaftlichen Bereich tut sich in Deutschland da gerade sehr viel. Das zeigt mir, dass ich am richtigen Ort bin.

In Deutschland wird hingegen viel über den Forschungsstandort geklagt.

Eine der größten Hürden ist, dass das Lehr- und Forschungspersonal mit diesen Unsicherheiten zu kämpfen hat. Ohne Fremdfinanzierung ist es für die Universitäten sehr schwierig, ihr Personal zu halten. Da hängen sehr viele Jobs dran, die unverzichtbar für die Forschung sind.

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