Vergiftet statt entgiftet: Überdosis Selen beschäftigt Gericht auf Mallorca

Im April 2022 verabreichte das Deutsche Facharzt Zentrum Peguera mehreren Patienten eine falsch etikettierte Dosis Selen. Die Betroffenen leiden noch heute darunter

Mit Selen vergiftet: die deutsche Bauunternehmerin Doris Oehmke.

Mit Selen vergiftet: die deutsche Bauunternehmerin Doris Oehmke. / MZ

Ciro Krauthausen

Ciro Krauthausen

Eine schwere Selen-Vergiftung nach einer Vitamin-Infusion im Deutschen Facharzt Zentrum auf Mallorca beschäftigt seit Monaten ein Ermittlungsgericht in Palma. Fünf Patienten haben Strafanzeige gegen das Ärztezentrum, die behandelnden Ärzte und die mallorquinische Apotheke gestellt, die das lebenswichtige, aber in hohen Dosen toxische Spurenelement lieferte.

Das im Südwesten der Insel beheimatete Deutsche Facharzt Zentrum räumt die Vergiftungen von April 2022 ein, bestreitet aber einen Behandlungsfehler und sperrt sich gegen Schmerzensgeld-Forderungen.

„Wir bedauern den Fall sehr. Unsere Ärzte haben jedoch zu keiner Zeit verantwortungslos oder rechtswidrig gehandelt. Wir sind aber sehr zuversichtlich, dass sich bald alles entsprechend aufklären wird“, schrieb der Geschäftsführer Per Baar einem Reporter des TV-Senders RTL, der zuerst über den Fall berichtete. Mit Hinweis auf das laufende Verfahren wollte Baar auch gegenüber der MZ keine weiteren Erklärungen abgeben.

"Danach fühlen Sie sich wie neugeboren"

„Eigentlich war ich eine richtige Powerfrau, heute fühle ich mich wie ein Wrack“, sagt Doris Oehmke, eine der mindestens fünf betroffenen Patienten, der MZ. Die 56-jährige Unternehmerin aus Port d’Andratx hatte sich in dem Ärztezentrum in Peguera nach einem Bandscheibenvorfall und der Einnahme starker Medikamente eine „Entgiftung“ mit einer Vitamin-Spurenelemente-Infusion verschreiben lassen. „Danach fühlen Sie sich wie neugeboren“, soll die Ärztin versprochen haben, „bringen Sie Ihren Mann doch gleich mit.“ Doris und Michael Oehmke kamen am 26. April 2022 gegen 9 Uhr morgens an den Tropf.

Besonders bei Doris Oehmke setzten die Symptome einer Vergiftung unmittelbar ein: ein fürchterlicher Geschmack im Mund, starke Schmerzen im Arm und vor allem ein unkontrollierbares, anhaltendes Erbrechen. Oehmke verlor kurz das Bewusstsein. Die alarmierte Ärztin machte ein EKG, maß den Blutdruck, gab eine Spritze gegen Übelkeit und vermutete eine allergische Reaktion.

Oehmke und ihr Mann, der leichtere Symptome verspürte, verließen die Praxis nach etwa anderthalb Stunden. Die Ärztin gab ihnen noch ein Zäpfchen (Vomex A) gegen Übelkeit mit, doch Doris Oehmke sollte noch Stunden weiter erbrechen, konnte bald nicht mehr stehen, sackte in einen 20-stündigen Tiefschlaf.

Die medizinische Wirksamkeit der Infusionen ist umstritten

Wie aus ihrer Schilderung und der MZ vorliegenden Unterlagen hervorgeht, war man im Ärztezentrum alarmiert, konnte sich aber zunächst nicht erklären, was geschehen war. Die Vitamin-Spurenelemente-Infusionen werden dort seit Jahren bis zu zehn Mal am Tag verabreicht. Die medizinische Wirksamkeit ist umstritten, besondere Vorfälle damit hatte es aber bislang offenbar nicht gegeben. Nun aber klagten auch andere Patienten über ähnliche Symptome.

Spätestens am 27. April um 15.47 Uhr stand die Ursache fest: Die Apotheke Reis Católics Palma widerrief die für den Spurenelemente-Cocktail gelieferte Charge mit Selen, einem chemischen Element, das sich auch in Pflanzen anreichert und sonst über die Nahrung eingenommen wird. Die Lieferung sei falsch etikettiert worden, hieß es in der Apotheker-E-Mail. Anstatt 0,1 mg enthalte jede gelieferte 3-Milliliter-Flasche 1 mg Selen, also zehnmal mehr als angegeben.

Die behandelnde Ärztin meldete sich am 28.4. bei Doris Oehmke und bat sie, in die Praxis zu kommen: Mit der Infusion habe etwas nicht gestimmt. Ein am selben Tag ausgeführter Test sollte ergeben, dass der Selen-Wert im Blut von Doris Oehmke noch über 48 Stunden nach der Infusion viermal so hoch war als normal. Bei einer anderen Patientin lag er sogar noch höher.

Schriftlich über die Selen-Vergiftung informierte das Deutsche Facharzt Zentrum die Betroffenen dann mit einer E-Mail vom 29.4., 16.46 Uhr – mit der Aufforderung, „falls noch nicht geschehen“ einen Termin zur Kontrolle und Nachbehandlung auszumachen. „Es ist nicht wahrscheinlich, dass längerfristige Folgen auftreten“, heißt es darin auch.

Doris Oehmke kämpft seit der Infusion mit einer chronischen Selenose.

Doris Oehmke kämpft seit der Infusion mit einer chronischen Selenose. / MZ

Extremes Zahnfleischbluten, Haarausfall, sich schälende Fingernägel

Einen Monat später, am 24.5., konnte die behandelnde Ärztin, ebenfalls schriftlich, Langzeitschäden nicht mehr ausschließen. Doris Oehmke berichtet für diese Zeit unter anderem von extremem Zahnfleischbluten, anhaltenden Schmerzen im Arm, Haarausfall, sich schälenden Finger- und Zehennägeln. Es sind Symptome einer chronischen Selenose. Auch bei ihrem Mann hätten die Beschwerden mit der Zeit zugenommen: blutende Pusteln auf dem Kopf, Gewichtsverlust, Erschöpfungszustände, sagt Doris Oehmke.

Nach einem erneuten Besuch im Arztzentrum erstattete Doris Oehmke am 3. Mai bei der Guardia Civil Anzeige. Das so in Gang gesetzte Verfahren wurde Wochen später wieder eingestellt, weil sich die Oehmkes auf Anraten ihrer Anwältin dazu entschieden, gemeinsam mit den anderen Betroffenen zu klagen.

Versicherung bietet gerade einmal 3.440,50 Euro Schmerzensgeld an

Seither beschäftigt sich ein Ermittlungsgericht mit dem Fall. Es muss entscheiden, ob es sich um eine fahrlässige Verletzung und somit Straftat handelt. Das Schmerzensgeld könnte auch zivilrechtlich beantragt werden. Die Versicherung der Apotheke hat bislang lediglich rund 3.440,50 Euro pro Betroffenem angeboten. Der von der MZ kontaktierte Anwalt der Farmacia Reis Católics will zu dem Fall keine Stellung nehmen.

Die Selen-Werte sind mittlerweile wieder normal, die chronische Selenose aber besteht weiter. „Es fühlt sich an wie ein permanenter Muskelkater“, beschreibt die 56-Jährige ihren derzeitigen Zustand. Ihr Mann und sie versuchten, wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden, haben Ernährung und Gewohnheiten umgestellt, führen ihr Bauunternehmen weiter. Es ginge ihnen schon etwas besser, sagt die Unternehmerin, aber ob die Vergiftungserscheinungen jemals wieder verschwänden, könne keiner sagen.

Mit ihren Sorgen alleingelassen

Und da sei noch etwas: das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Die Ärzte hätten den Vorfall zu lange nicht ernst genommen, sagt Doris Oehmke, und sie mit ihren Sorgen alleine gelassen. Heute würden sie den Vorfall herunterspielen. Dabei habe sie, die nur wenig Spanisch spricht, ihnen doch immer vertraut.

Die 56-Jährige und ihr Mann leben und arbeiten in Port d’Andratx, wo jeder jeden kennt und wo sich gefühlt jeder Zweite – schwerreiche Unternehmer , Prominente und Kunden der Oehmkes inbegriffen – im Deutschen Facharzt Zentrum behandeln lässt. Es damit aufzunehmen, ist nicht ohne. Der neue Miteigentümer des Ärztezentrums Per Baar übernahm die Geschäftsführung wenige Tage nach der Vergiftung. Er will die Angebote weiter ausbauen, investiert kräftig. „Sie tun so, als sei nichts passiert“, sagt Doris Oehmke, „doch es ist sehr wohl etwas passiert.“

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