Die Glasbodenboote am Hafen von Maó haben ernste Konkurrenz bekommen: Am 19. Juli um kurz vor 12 Uhr mittags stehen Menschen unter der sengenden Sonne bereitwillig Schlange, um lieber an Bord eines gelben Katamarans zu steigen. Er wird sie in einer 15-minütigen Fahrt zur Illa del Rei befördern – einem kleinen Eiland vor dem menorquinischen Hauptort, der seit heute mit einer neuen Attraktion aufwartet: dem lange erwarteten Kunstzentrum aus dem Hause der renommierten Schweizer Galerie Hauser & Wirth. "Es ist ein Privileg, am ersten Tag dabei zu sein", sagt die Festland-Spanierin Carmen Hurtado, die mit einer Freundin im Boot sitzt und vor Vorfreude strahlt.

Wie ein riesiges Überraschungsei heißt die rosa Skulptur „Autostat“ (1996) von Franz West die ankommenden Besucher an der Anlegestelle der Insel willkommen, 700 sollen es insgesamt am Eröffnungstag werden. Gleich einer Karawane auf dem Weg zur Oase schiebt sich der Strom eine kleine Anhöhe hinauf, staunt und schaut: Zur Linken erhebt sich ein u-förmiges ehemaliges Militärkrankenhaus aus der Zeit der britischen Herrschaft (17081802), im Zentrum Shop und Restaurant, zur Rechten ein Nachbargebäude des Hospitals, das der Architekt Luis Laplace in eine eindrucksvolle Galerie mit acht Ausstellungsräumen verwandelt hat. Eingebettet ist die Anlage in einen blühenden mediterranen Garten aus der Hand des bekannten Landschaftsgärtners Piet Oudolf.

‘Elogio del vacío VI’ (2000) by Eduardo Chillida on Hauser & Wirth Menorca, Courtesy of the Estate of Eduardo Chillida and Hauser & Wirth © Zabalaga Leku. San Sebastián, VEGAP, 2021, Foto: Daniel Schäfer

Symbiose von Kunst und Natur

"Schon der Ort an sich hat eine unglaubliche Magie", sagt Mar Rescalvo, die Leiterin des neuen Zentrums. Die resolute Menorquinerin mit der rauchigen Stimme ist am Eröffnungstag permanent in Bewegung, begrüßt Gäste und wird um Rat gefragt. Zeit und Muße für ein MZ-Gespräch findet sie dennoch. "Das Projekt fügt sich perfekt auf Menorca ein: Die Kunst steht hier im Mittelpunkt, aber sie kreiert Synergien mit der spektakulären, geschützten Natur der Insel, mit der Geschichte, der Architektur und der Gemeinschaft", sagt sie. Solche besonderen Kultur-Erlebnisse seien heute schwer gefragt.

Manuela und Iwan Wirth, deren 1992 in Zürich gegründete Galerie Dependancen in London, Los Angeles, New York, Hongkong, Gstaad, St. Moritz und in der britischen Grafschaft Somerset besitzt, hätten sich schon vor vielen Jahren in Menorca verliebt – und dann vor ihrem inneren Auge einen besonderen Ort für ihre Künstler und Sammler, aber auch für Besucher gesehen. "Es ist ein Projekt, das von Herzen kommt", sagt Rescalvo.

Sie selbst ist seit vier Jahren dabei und spielte als Einheimische keine unwesentliche Rolle dabei, die Menorquiner für das Vorhaben der Galeristen aus dem Ausland zu begeistern. "Der beste Weg ist, sich vorzustellen und zusammenzuarbeiten. Iwan und Manuela Wirth wollen Teil der Gemeinschaft auf Menorca sein", erklärt sie. Die Vernetzung mit Museen und Kulturinstitutionen der Insel, kulturelle Aktivitäten und pädagogische Angebote für die lokale Bevölkerung (und natürlich auch für die internationalen Besucher) gehören zum Konzept dazu.

‘The Couple’ (2002) by Louise Bourgeois on Hauser & Wirth Menorca © The Easton Foundation/DACS Courtesy of The Easton Foundation and Hauser & Wirth, Foto: Daniel Schäfer

Eröffnungsausstellung von Mark Bradford

Den Rundgang durch die Eröffnungsausstellung "Masses and Movements" (bis 31. Oktober) des afroamerikanischen Künstlers Mark Bradford beginnt man am besten im rechten Flügel und lässt zunächst die Räume selbst auf sich wirken: Von natürlichem Licht erhellt, weiß und weitläufig bilden sie auf insgesamt 1.500 Quadratmetern einen feinfühlig gestalteten Rahmen, der mit Nischen und Sitzgelegenheiten zur entspannten Kunstbetrachtung animiert. Die großformatigen Werke auf Leinwand haben hier genügend Luft zum Atmen. Sie wirken dank ihrer Technik mit übereinandergelegten, zerkratzten Schichten tatsächlich lebendig und bewegt, gar vom Leben gezeichnet.

Im linken Flügel dominiert zunächst eine Installation mit sieben von der Decke hängenden Globen verschiedener Größen, gefolgt von speziell für diesen Ort konzipierten Wandgemälden, die sich der Textur der Oberflächen anpassen. Bradford arbeitet mit Landkarten und verarbeitet Geschichte, sein Interesse galt in dieser Schau einer Welt in Bewegung, mit ihren vielen Konnotationen: Kontinentalverschiebung, die Verschiffung von Sklaven, die Vertreibung indigener Völker, Eurozentrismus und die ungleiche Verteilung von Macht und Privilegien sowie die heutige Geflüchtetenkrise.

Im letzten Raum können die Besucher an einem Basteltisch selbst aktiv werden. Vor allem aber ist der Saal einem speziellen Projekt gewidmet, das laut Mar Rescalvo die Ausstellung geformt hat und schließlich zu ihrem Herzstück wurde: Studenten der Escola d'Art de Menorca haben hier gemeinsam mit dem Künstler Weltkarten und Migrationsrouten förmlich in die Poren der Wände tätowiert. Die Installation umfasst zudem Stapel mit Postern, die Immobilien-Anzeigen mit Fotografien von Wüsten und Meeren kombiniert, typischen Schauplätzen der Flucht. Das Zitat "Niemand verlässt seine Heimat, es sei denn seine Heimat ist das Maul eines Haifischs" der britisch-somalischen Dichterin Warsan Shire ziert als Schriftzug die Fenster, verleiht dem Blick auf das türkisblaue Meer eine politische Dimension und macht den Betrachter nachdenklich.

Ein Ort, der die Sinne schärft und den Geist öffnet

‘Escuchando a la piedra III’ (1996) by Eduardo Chillida on Hauser & Wirth Menorca, Courtesy of the Estate of Eduardo Chillida and Hauser & Wirth ©Zabalaga Leku. San Sebastián, VEGAP, 2021, Foto: Daniel Schäfer

Überhaupt ist diese Insel ein Ort, der einen innerlich stimmt, die Sinne schärft und den Geist öffnet. "Die Kunst bildet den Kern, aber man kann sich aussuchen, auf welche Weise man sie ganz persönlich erleben möchte", sagt die Direktorin. Viele der ersten Besucher scharen sich entzückt um die Skulpturen von Joan Miró, Louise Bourgeois und Eduardo Chillida, die sich so natürlich in das Gelände einfügen, als seien sie schon seit Äonen hier verwurzelt. Man kann zum Beispiel im schattigen Olivenhain auf einem der vielen bequemen weißen Stühle direkt bei Chillidas Granitskulptur "Escuchando a la piedra III" Platz nehmen, dem Stein, dem Wind und den Wellen lauschen.

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Ein paar Meter weiter verteilen sich die Tische der "Cantina" zwischen den Bäumen, nebst Keramikschalen mit Orangen, Zitronen und Tomaten. Die unverkrampft elegante Atmosphäre lässt mehr an die Finca eines guten Freundes als an ein Restaurant denken. Rescalvo sagt dazu: "Angenehme Orte zu schaffen, wo man eine Ausstellung besuchen, aber auch in Ruhe nur ein Buch lesen oder einen Kaffee trinken kann, steckt bei Hauser & Wirth in der DNA."

Hauser & Wirth Menorca, Illa del Rei, täglich 10–23 Uhr, Eintritt frei, Infos unter: hauserwirth.com, Tipp: Fährenticket online kaufen (stündlich 10–21 Uhr ab Moll de Llevant, 61, Hin- und Rückfahrt: 5 Euro) und im Restaurant unbedingt vorher reservieren