Mallorca Zeitung

Mallorca Zeitung

Warum mussten drei junge deutsche Mallorca-Urlauber nachts auf der Autobahn sterben?

Immer wieder sind in den vergangenen Jahren Playa-Besucher auf der Autobahn nach Llucmajor überfahren worden. Angehörige zweifeln an der Unfalltheorie

Von hier aus geht es an der Ausfahrt 11 auf die Autobahn in Richtung Llucmajor. PSS

Wenn man nüchtern ist, kann man die Strecke in rund zwölf Minuten schaffen. Vom Bierkönig geht es die Schinkenstraße hoch in Richtung der Kirche La Porciúncula. Dann nach links in Richtung des Kreisverkehrs bei der Apotheke Las Maravillas. Von dort biegt man rechts ab und geht immer geradeaus. Auf der rechten Seite befindet sich der kleine Wald der Kirche, von der Straße nur getrennt durch eine niedrige Mauer. Später überquert man den Camí del Palmer und läuft dann auf dem engen Bürgersteig an dem niedrigen Metallzaun entlang. Hinter einem Hügel befindet sich ein Steinbruch. Auf der linken Seite ist man derweil an der Cepsa-Tankstelle vorbeigelaufen. Ein Stück weiter befindet sich das Grillrestaurant Can Torrat. Hat man diese Strecke erst einmal geschafft, ist man bald bei dem flutlichtbeleuchteten Kreisverkehr.

Hier gibt es drei Optionen: Läuft man nach links herunter, bewegt man sich auf der unbeleuchteten Auffahrt in Richtung Autobahn hinab. Geht man geradeaus, kommt man auf die Brücke über die Autobahn. Weiter hinter liegt das Dörfchen Es Pil·larí. Geht man nach rechts herunter, kommt man zunächst an einem Häuschen der Autobahnwartung vorbei. Dann geht es hinab auf den hell erleuchteten Autobahnabschnitt zwischen den Ausfahrten 1 1 und 1 2 der Llucmajor-Autobahn. Hier, an diesem Abschnitt sind zwischen 2012 und 2015 mindesten drei junge deutsche Playa-Urlauber gestorben. Vermutlich, so damals die Erkenntnisse der Ermittler, waren sie betrunken und haben sich auf dem Weg zum Hotel verlaufen. Damit war die Sache gegessen.

Dass die Fälle nun Jahre später wieder von Interesse sind, liegt an einer spektakulären Wende in einem anderen Todesfall. Der junge Deutsche Playa-Urlauber Tim V. war in der Nacht auf den 9. Oktober 2022 auf Höhe der Ausfahrt 1 1, allerdings auf der Gegenfahrbahn in Richtung Palma, überfahren worden. „Urlauber legt sich betrunken auf die Autobahn“, hieß es damals in den Presseberichten. Ende Oktober 2023 kam heraus: Zwei Männer sollen ihn aus einem Lieferwagen gestoßen haben – die Polizei geht von Mord aus.

Der Fall Alexander L. (2015)

Er habe erst einmal den Wagen anhalten müssen, als die Nachricht im Radio kam, erzählt Viktor L. „Ich habe Gänsehaut bekommen und meine Mutter angerufen. Denn damit war klar, dass wir recht hatten.“ Exakt sieben Jahre vor dem Tod von Tim V., in der Nacht auf den 9. Oktober 2015, war L.s Bruder Alexander unter ähnlichen Umständen ums Leben gekommen. Ebenfalls an der Ausfahrt 1 1 – in Richtung Llucmajor. Er war damals 23 Jahre alt.

Alexander L. war Soldat bei der Bundeswehr.

Alexander L. war Soldat bei der Bundeswehr. Privat

Mit sieben weiteren Freunden war der Bundeswehrsoldat nach Mallorca gekommen. Er hatte gerade einen harten, vierwöchigen Einsatz hinter sich, so sein älterer Bruder. Es war der erste Abend auf der Insel. Die Freunde waren im Hotel Pabisa Chico untergebracht. Am Nachmittag sahen sie sich die Show von Mia Julia im Bierkönig an, später zogen sie weiter durch die Kneipen. Gegen 23.30 Uhr schickte Alexander noch ein Video von den feiernden Freunden. Später verloren sie sich aus den Augen. Keine zwei Stunden später, laut Autopsiebericht um 1.15 Uhr, war er tot.

Der Fall Pascal H. (2012)

Zweieinhalb Jahre vor Alexander, am 21. April 2012, kam der 21-jährige Pascal H. an derselben Stelle ums Leben. In einem im „Mallorca Magazin“ erschienenen Artikel berichtet ein Freund, der damals mit ihm unterwegs war, dass man sich gegen 23.10 Uhr im Oberbayern kurz aus den Augen verloren hatte. Zwanzig Minuten später war er tot. Überfahren auf der Autobahn, zwischen den Ausfahrten 1 1 und 1 2. Die Familie glaubte nie der offiziellen Version, dass es sich um einen Unfall gehandelt hat.

Der Fall Piragash S. (2013)

Die Nacht auf den 29.6.2013: Der 23-jährige Piragash S. war mit der zweiten Mannschaft des SC 04 Tuttlingen an der Playa unterwegs. Das Team feierte in Megapark und Bierkönig. Gegen 3.30 Uhr wurde Piragash S. – in der Nähe der Ausfahrt 1 1 – von vier Wagen hintereinander überfahren.

Rechtsanwalt Bernhard Mussgnug war damals Präsident des Fußballvereins. „Ich bekam damals einen Anruf, dass etwas passiert war. Später erzählten mir die Spieler, dass sie zusammen unterwegs gewesen waren. Plötzlich war Piragash S. verschwunden“, erinnert er sich gegenüber der MZ. Der Verein organisierte eine Spendenaktion für die Familie, über 10.000 Euro seien damals zusammengekommen. Damit wurden unter anderem die Überführung des Leichnams und die Beerdigung bezahlt.

Den Vereinschef, der Fachanwalt für Strafrecht ist, ließ der Fall nicht los. Mussgnug kannte die Gegend, in jenen Jahren war er regelmäßig auf Mallorca. „Mir kam das damals sehr dubios vor. Als ich einige Zeit nach dem Unfall auf Mallorca war, bin ich die Strecke abgefahren, die er gelaufen sein müsste, um auf die Autobahn zu gelangen. Für mich war das nicht nachvollziehbar, wie jemand diesen Weg eingeschlagen haben sollte, selbst wenn er betrunken war.“ Die Meldung von der Wende im Fall Tim V. sei für ihn sehr erhellend. „Ich finde viele Elemente wieder, die mir damals merkwürdig vorkamen.“

Es gibt noch andere Fälle von Urlaubern, die unter ungeklärten Umständen auf der Autobahn gestorben sind – unter anderem der eines rund 50 Jahre alten Deutschen im September 2010. Aber die drei hier aufgeführten Fälle weisen die meisten Gemeinsamkeiten auf.

Ungewöhnliche Parallelen

Auch der deutsche Unfallanalytiker Dipl.-Ing. Jörg Schröder, der auf Mallorca lebt, findet das sich ähnelnde Muster dieser Fälle bemerkenswert. „Es ist auffällig, dass sich die Ereignisse immer wieder in dem gleichen Abschnitt der Autobahn abspielen, dass es immer männliche Bevölkerungsgruppen sind, auch immer Ausländer und die Personen zu Fuß unterwegs sind. Man könnte angesichts der Häufigkeit jedoch lediglich spekulieren, ob andere Motive als Ursache der Ereignisse vorlagen, oder es sich nicht doch um tragische Verkehrsunfälle handelt“, sagt Schröder.

Es sei auch nicht verwunderlich, dass die zuständigen Behörden von Unfällen ausgehen. Einen Vorwurf könne man den Ermittlern deswegen nicht machen, sagt Schröder. Für weitere Ermittlungen bedürfe es eines Anfangsverdachtes oder entsprechender Indizien (Spuren, Zeugenaussagen etc.). Im Fall Tim V. war dies letztlich der Hinweis eines Zeugen. Tödliche Verkehrsunfälle auf Autobahnen seien per se noch nicht auffällig. „Statistisch betrachtet, ist jedoch eine Häufung von Ereignissen in einem bestimmten Autobahnabschnitt mit Fußgängern bei grundsätzlicher Betrachtung eher ungewöhnlich.“

Die Zuständigkeiten

Bei einem Vorfall auf diesem Autobahnabschnitt ist die Guardia Civil zuständig; sie geht zunächst von einem Unfall aus, sofern es keinen Anfangsverdacht oder Hinweise gibt, die dagegen sprechen. Erst nach Vorliegen entsprechender Hinweise, werden weitere Ermittlungen angestrengt und der Fall der Nationalpolizei übergeben. So war es auch im Fall Tim V. Die Guardia Civil war zunächst von einem Unfall ausgegangen. Erst der Hinweis eines Zeugen, der gesehen haben will, wie Tim V. aus dem weißen Lieferwagen gestoßen wurde, führte zu weiteren Ermittlungen in der Sache. Die Mordkommission der Nationalpolizei Palma übernahm.

Auf die Ähnlichkeiten zwischen den drei hier beschriebenen Fälle angesprochen, gibt sich ein Sprecher der Nationalpolizei verhalten. Wenn die Ermittler damals zu dem Schluss gekommen seien, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, gäbe es zunächst keinen Grund, den Fall neu aufzurollen. Die Wende im Fall Tim V. dürfe nicht zu einer Alarmstimmung führen. Dennoch: Wenn in einem Fall neue Hinweise auftauchen würden, die auf ein Verbrechen hinweisen, werde man denen selbstverständlich nachgehen. Und bei der Guardia Civil heißt es, Zeugen hätten damals gesehen, wie die Urlauber zu Fuß auf der Autobahn unterwegs waren.

Eine Familie recherchiert

Alexanders Bruder Viktor wurde noch in der Nacht über das Unglück informiert. Der junge Mann hatte das All-inclusive-Armband des Hotels an. Die Guardia Civil verständigte das Hotel und das Konsulat. „Ich wollte es nicht glauben, als ich in der Nacht den Anruf bekam“, sagt Viktor L. Er war gerade mit den Vorbereitungen für seine Hochzeit beschäftigt, die zwei Wochen später stattfinden sollte.

Die Familie verpflichtete einen Anwalt auf der Insel, es gab mehrere Kontakte mit dem Konsulat. Doch die Informationen blieben spärlich. Und waren, wie sich herausstellen sollte, teilweise falsch. So wurde der Familie mitgeteilt, dass bei der Leiche keine Wertsachen gefunden wurden. Als Wochen später die sterblichen Überreste überführt worden waren, waren dann doch Wertsachen dabei.

Das Unfallauto nach dem Crash auf der Autobahn in der Nähe der Playa. J. Mateu

Viktor L. begann zu recherchieren. Wie war sein Bruder, der Soldat, auf der Autobahn gelandet? Viktor L. entdeckte die anderen Fälle, die Unfälle von Urlaubern, die sich scheinbar auf die Autobahn verirrt hatten. Er versuchte erfolglos, den Fahrer zu kontaktieren, der in den Unfall verwickelt war, bei dem Alexander starb. Immer mehr bekam er das Gefühl, dass ihm Informationen vorenthalten wurden. „Bis heute haben wir den Unfallbericht nicht bekommen“, sagt er.

Die Wende im Fall von Tim V. habe die Familie ermutigt, sich an die Mallorca Zeitung zu wenden, sagt der Bruder. Denn womöglich gebe es weitere Opfer, bei denen die Familien immer noch nach einer Antwort für einen unerklärlichen Tod suchen. Sollte es ein Mord gewesen sein, wolle er, dass die Täter gefasst werden. „Damit nie wieder eine Familie das durchmachen muss, was wir durchgemacht haben.“

Die Spekulationen

Was bleibt, sind Fragen. Und Vermutungen. Die Spekulation, die auf der Insel am häufigsten zu hören ist, handelt von Leuten, womöglich einer Bande, die Urlaubern K.o.-Tropfen verabreichen und sie dann in der Nähe der Autobahn absetzen. In manchen Fällen würden sie vorher noch ausgeraubt. Beweisen lässt sich das natürlich nicht – zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Aber das wäre eine Erklärung, die für die Angehörigen logischer klingt als die, dass das Familienmitglied freiwillig des Nachts auf der Autobahn herumlief.

Blickt man heute auf diese kurze Strecke zwischen den Ausfahrten 1 1 und 1 2 in Richtung Llucmajor – mit den hellen Scheinwerfern –, kann man sich schwer vorstellen, dass hier jemand nicht bemerkt hat, dass er auf der Autobahn ist. Oder dass unter solchen Umständen ein Verbrechen begangen wird. Doch ein Blick auf Google Street View zeigt: Die Laternen, die heute den Weg erleuchten, stehen erst seit 2016. Vorher war hier alles dunkel, genau wie an der Stelle, wo Tim V. aus dem Lieferwagen gestoßen wurde.

Artikel teilen

stats