Wer an der Universität forscht, fühlt sich zuweilen wie ein Gestrandeter auf einer einsamen Insel: isoliert mit seinem ganz spezifischen Themengebiet. Eine Brücke zwischen diesen Einsiedlern der Wissenschaft schlagen internationale Treffen – wie der jährlich stattfindende Kongress der Goethe-Gesellschaft in Spanien, ein sicherer Hafen für die kleine Gemeinschaft von Germanisten in iberischen Gefilden.

Dieses Jahr kommen die Wissenschaftler vom 6. bis 8. Oktober an der Balearen-Universität (UIB) in Palma zusammen. „Das schöne Stückwerk im Meer – Inseln als literarischer und kultureller Raum“, lautet passenderweise das übergreifende Thema. „Die Faszination für Inseln ist ein uraltes Phänomen. In der Vorstellungswelt der Menschen nehmen sie seit jeher einen prominenten Platz ein – das gilt nicht nur für die Literatur“, sagt Francisca Roca Arañó vom Organisationskomitee.

Diese Begeisterung spiegelt sich, zur Freude der UIB-Professorin für spanische und deutsche Philologie, in der Fülle und Vielfalt an spanisch- und deutschsprachigen Einsendungen (die freilich nicht als Flaschenpost eintrafen): „Unsere Anziehungskraft für Referenten aus dem Ausland ist eigentlich begrenzt, aber dieses Mal haben wir 63 Vorträge aus ganz Europa im Programm.“ Behandelt werden sowohl historische Themen wie etwa die Schilderungen von Spanien und den Balearen, die der Botaniker Moritz Willkomm im 19. Jahrhundert niederschrieb, als auch zeitgenössische Literatur, die den Schwerpunkt bildet.

Von Dystopie bis Utopie

Einer der ersten Vorträge stellt zunächst die provokante Frage „Gibt es noch so etwas wie eine Insel?“ Gar kein so abwegiger Gedanke, denn geografische Abgelegenheit ist längst kein Stigma mehr. „Wenn man an Mallorca denkt, ist das wohl neben Madrid und Barcelona der am besten zugängliche Ort Spaniens“, sagt Roca. Letztlich habe Mallorca einen Hauptaspekt der Eiland-Definition eingebüßt: die Schwierigkeit, dort hinzukommen. „Auf der anderen Seite ist sich jeder, der hier lebt, bewusst, dass er sich auf einer Insel befindet. Daran ändert auch der Flughafen nichts.“

Als Topos und Inspirationsquelle hat die Insel jedenfalls längst nicht ausgedient. Laut der Professorin ist das vor allem ihren Mikrokosmos-Qualitäten zu verdanken. „Sie ist ein so begrenzter und abgeschiedener Ort, dass hier alles passieren und man sich alles Mögliche vorstellen kann: von Dystopien bis zu Utopien vom wilden und freien Leben“, erklärt Roca. Verschiedene Arten, zu denken, zu leben und die Welt zu betrachten, ließen sich auf eine Insel projizieren.

So sucht die Malerin Lulubé in „Das Herz des Hais“ von Ulrich Becher nach wildromantischer Liebe und schwärmt von vulkanischen Inseln – „Die Katharsis der Insel“ lautet der verheißungsvolle Titel des Vortrags dazu. Die Schriftstellerin Juli Zeh wählte gleich für zwei ihrer Psychothriller, „Nullzeit“ und „Neujahr“, die Kanareninsel Lanzarote als „Schauplatz für Unerhörtes“. Der Vortrag zu ihren Werken ist nicht der einzige, der sich mit dem Phänomen auseinandersetzt, dass Inseln oft als Kulisse für Verbrechen herhalten müssen: „Auf einer Insel, wo jeder jeden kennt, gibt es wenige Fluchtmöglichkeiten“, sagt Roca.

Inseln seien eben nicht nur Zufluchtsorte, sondern hätten auch eine klaustrophobische Komponente, die sie zur perfekten Bühne für Krimis oder psychologische Traumata mache. „Die zwei Romane von Juli Zeh sind dafür gute Beispiele. Und die schwarze Insel Lanzarote reflektiert zugleich diese Ambivalenz: Einerseits ist sie sehr dunkel, andererseits hat sie dieses schöne helle Licht und das Meer.“

Francisca Roca selbst setzt sich in ihrem Vortrag mit dem Debütroman „Miroloi“ von Karen Köhler auseinander. „Er ist zeitlich nicht verortet, behandelt aber viele aktuelle Themen und Probleme auf der Plattform einer Insel“, sagt Roca. Sie sieht eine Parallele zu Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ (Der Report der Magd): Die Gesellschaft steckt in einer vollkommenen Krise, und vor allem Frauen sind die Leidtragenden des dadurch aufkeimenden Totalitarismus. „Eine Insel ist dafür der ideale Ort, weil man dort von äußeren Einflüssen abgeschirmt ist. Es ist wie ein Konzentrationslager, aus dem es kein Entrinnen gibt.“

Stargast: Autor Lutz Seiler

Roca war überrascht, dass sich einige Referenten dasselbe Werk vorgenommen haben: Gleich drei von ihnen sprechen am 6.10. über Lutz Seilers Debütroman „Kruso“, der 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und später auch verfilmt wurde. Im Anschluss gibt sich der Autor selbst für eine Lesung die Ehre. Sein Roman spielt auf der Ostsee-Insel Hiddensee zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR und erzählt von der Freundschaft zwischen dem Germanistik-Studenten Edgar Bendler und dem Küchenmitarbeiter Alexey Krusowitsch, genannt Kruso – quasi zwei „Schiffbrüchigen“ in einer sich wandelnden Welt. „Das Werk ist teilweise düster. Es reflektiert sehr gut das Ende einer Epoche, und das mit starken Figuren“, sagt die Professorin. Sie sei schon gespannt, was einer der Referenten zum Thema „Hiddensee – Capri des Nordens?“ zu sagen hat. „Das hört sich fast an, als sei das eine Ferieninsel“, meint sie amüsiert.

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Auch die Queen der Insel-Literatur, wenn jemandem dieser Titel gebührt, war zu einer Lesung geladen, doch sie ist verhindert. Die Rede ist von Judith Schalansky, einer Autorin, die nicht weniger als fünf Referenten zu Vorträgen inspirierte. Kaum jemand hat sich wohl mit solcher Obsession und Akribie dem Thema Insel verschrieben wie Schalansky: Ihr 2009 erschienener „Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“ ist ein einzigartiger Mix aus karthografischem und literarischem Werk. Und das Vorwort könnte treffender nicht sein: „Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.“

Wer einen Vortrag oder eine der Lesungen besuchen möchte, sollte sich vorab anmelden. Informationen zum Programm: ub.edu/filoal/sge.html