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Aktionskünstler Santiago Sierra entzweit ein Dorf auf Mallorca

Der für radikale Werke bekannte Künstler Santiago Sierra zerteilt Artà mit einer 80 Meter langen Mauer aus Wassertanks und verweist so auf die Migrationskrise im Mittelmeer. Warum tut er das? Ein Interview

Aktionskünstler Santiago Sierra zerteilt den Hauptplatz von Artà mit einer Wand aus WassertanksNele Bendgens

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Auf Kuba bezahlte er Junkies, um ihnen den Rücken tätowieren zu dürfen, bei Gibraltar entlohnte er afrikanische Zuwanderer, damit sie Erdlöcher im Gittermuster ausheben, in Deutschland sorgte er für Wirbel, als er für ein Projekt Gas in eine Synagoge leitete. Der Künstler Santiago Sierra (Madrid, 1966) ist radikal in seinen Ansichten und radikal in der Umsetzung.

Jetzt hat er im Rahmen des Festivals „Cool Days“ auf dem Hauptplatz von Artà, der Plaça Conqueridor, eine 80 Meter lange Wand aus mit Meerwasser gefüllten Tanks errichtet – um auf die Barriere aufmerksam zu machen, auf die Immigranten bei der Überquerung des Mittelmeers stoßen.

Warum gerade 171 Tanks à 1.000 Liter?

Aus praktischen Gründen. Es geht ums Meer, also wollte ich großes Volumen schaffen. Auf dem Platz sollten aber ein paar Meter frei bleiben, um das Werk von allen Seiten ansehen zu können. 

Wie sehen Sie die EU-Zuwanderungspolitik?

Sie ist sadistisch, grausam und rassistisch. Jeder Mensch hat das Recht auf ein besseres Leben und sollte entscheiden dürfen, wo er es lebt. Was wir grade erleben, ist barbarisch. Für mich ist Zivilisation Solidarität und gegenseitige Hilfe, nicht das, was aktuell gelebt wird.

Haben Sie in Artà wieder Menschen, die in Armut leben, schlecht bezahlt, um Ihr Werk aufzubauen? Unterdrückung als Werkzeug, um Unterdrückung anzuprangern?

Nein, diesmal nicht. Es sind Anwohner, die mir die Tanks geliehen haben, und Leute vom Rathaus. Die Armen, die man bezahlt, sind diejenigen, die hier putzen. Die die Sessel reinigen, auf denen wir sitzen. Das ist ja keine Erfindung von mir. Die gibt es.

Fast immer geht es bei Ihnen um Kapitalismuskritik. Warum?

Es geht nicht nur um den Kapitalismus. Wenn ich im Feudalismus leben würde, würde ich darüber reden. Ich rede über die Gesellschaft, in der ich lebe, mit all ihren Eigenschaften, und der Kapitalismus ist eine davon. Ich rede von der Realität.

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Santiago Sierra beim Interview mit der MZ.

Ihre Mittel sind teilweise grenzwertig. Selbst Ihre Anhänger finden, dass Sie 2006 mit dem Synagogen-Projekt bei Köln zu weit gegangen sind. Ist da rückblickend was dran?

Nein, ich bereue nichts. Es war ein exzellentes Werk in Köln, eines der besten. Das war Teil der Arbeit eines Künstlers. Wir benutzen sensible Mittel, die an die Sensibilität appellieren. Und all das erzeugt Spannungen, vor allem bei delikaten Themen. Da kann es sein, dass das Kunstwerk aus dem Ruder läuft. Aber das ist gut.

2018 sorgten Sie mit Ihrer Ausstellung über politische Gefangene in Palma für Wirbel. Rechtsradikale zerstörten das Werk an der Plaça d’Espanya. Das Projekt in Artà dürfte weniger kontrovers sein.

Das weiß man nie. Die Presse macht, was sie will, nicht, was ich entscheide. Die haben ihre Agenda und ich meine. 

Stichwort Meinungsfreiheit: Wie ist es darum in Spanien bestellt?

Sehr schlecht. In meiner Jugend habe ich das anders empfunden. Ich bin mit Gruppen aufgewachsen, die richtig über die Monarchie hergezogen haben, und es ist nichts passiert. Doch dann scheinen sich die Regeln plötzlich geändert zu haben. Ab einem bestimmten Moment. Ich glaube, seit dem neuen König. Der will Stimmen ersticken. Denken wir an die juristisch verfolgten Rapper. Es gibt einen gewaltigen Druck auf die Künstler. Die Daumenschrauben werden immer enger. Ein Künstler, der am Anfang seiner Laufbahn steht, muss heute Sachen bedenken, die ich anfangs nicht bedenken musste. Viele Arbeiten beginnen damit, den Anwalt zurate zu ziehen. Was passiert, wenn ich das tue? Das war früher nicht so.

Also zensieren Sie sich selbst?

(Ausweichend.) Ich merke, wie mir die fehlende Meinungsfreiheit zu schaffen macht. Vorher bin ich viel gereist, aber durch die Pandemie bin ich in Spanien mehr als sonst hängen geblieben. Das ermüdet. 

Fühlen Sie sich in Deutschland wohler?

Dort habe ich am meisten gearbeitet, neben Mexiko. Ich fühle ich mich dort ziemlich wohl, obwohl es natürlich auch da Menschen gibt, die gegen mich sind. Meine Studienzeit in Deutschland (in Hamburg, Anfang der 1990er, Anm. d. Red.) war sehr bereichernd. Anders als an der Complutense-Universität in Madrid. Das war ein Desaster. Ich hatte dort Dozenten, die die Franco-Gedenkstätte Valle de los Caídos gebaut haben. 

Verändert Ihre Kunst die Welt?

Nein. Wir reden, weil wir eine Stimme haben. So, wie Vögel zwitschern und Hunde bellen. Und wir Künstler machen Kunst. Aber ich denke nicht, dass ich damit viel verändern kann. 

Ist das nicht frustrierend? Kämpfen, in dem Wissen, dass man nicht gewinnen kann?

(Nachdenklich.) Die Realität verfügt über Atomwaffen. Ich nicht. Die Realität ist ziemlich überzeugend.

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