20 Jahre Terroranschlag in Madrid: Ein Attentat, das Spanien bis heute prägt

Am 11. März 2004 töteten Islamisten 191 Menschen in Madrid – was eine beispielslose Lügenkampagne der konservativen Regierung auslöste. MZ-Korrespondent Thilo Schäfer erlebte den Anschlag sowie das darauf folgende politische Erdbeben hautnah mit

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Kurz nach 8.30 Uhr am 11. März 2004 hörte ich in meinem Bett in Madrid einen dumpfen Knall. Kurz darauf noch einen. Ich dachte zunächst an Bauarbeiten an den Bahngleisen wenige Hundert Meter entfernt, da ich damals ganz in der Nähe des Atocha-Bahnhofs wohnte. Leicht verkatert vom Champions-League-Spiel zwischen Real Madrid und Bayern München am Vorabend stellte ich das Radio an. Kurz darauf meldete Cadena Ser eine Explosion in der Nähe des Bahnhofs.

Blutüberströmte Menschen

Ich stürmte aus dem Haus zur Calle Téllez, wo sich ein grauenhaftes Bild bot. Blutüberströmte Menschen stolperten über die Schienen hin zum Absperrzaun, in den Nachbarn bereits eine Öffnung gerissen hatten. Manche fragten nach einem Handy, um Angehörige zu informieren. Andere standen völlig unter Schock. Anwohner brachten Decken, Handtücher und Wasserflaschen. Wir zogen einen falsch geparkten Wagen beiseite, damit der erste Rettungswagen durchkam.

Erst in den Stunden danach wurde klar, dass an jenem 11. März 2004 das schlimmste Terrorattentat in der Geschichte Europas stattgefunden hatte. Bei Sprengstoffanschlägen auf vier Nahverkehrszüge auf dem Weg zum Atocha-Bahnhof kamen 191 Menschen ums Leben, fast 2.000 wurden verletzt. Spanien war das Leid durch den Terrorismus der baskischen ETA seit Jahrzehnten gewohnt. Doch das Massaker in Madrid war eine andere Dimension. Die Folgen des 1 1-M, wie das fatale Ereignis in den spanischen Medien etikettiert wird, hatten nicht nur menschliche, sondern auch politische Tragweite. Denn drei Tage später fanden Parlamentswahlen statt, bei denen die regierende Volkspartei (PP) unerwartet den Sozialisten (PSOE) unterlag.

Anruf bei Chefredakteuren

Es steht außer Zweifel, dass die Attentate entscheidend die Wahl beeinflussten. Ausschlaggebend war jedoch der Versuch der Regierung von José María Aznar, die Bluttat der ETA in die Schuhe zu schieben, selbst als schon längst alles auf islamistische Terroristen hinwies. Aznar rief wenige Stunden nach der Tat persönlich die Chefredakteure führender Zeitungen an und versicherte ihnen die Urheberschaft der ETA. Dabei hatte die Polizei von Beginn an Zweifel.

Der Führer der damals illegalen ETA-nahen Partei Batasuna, Arnaldo Otegi, erklärte bei einer Pressekonferenz, dass die Vorgehensweise nicht auf die ETA schließen lasse. In einer TV-Rede am Abend sprach König Juan Carlos abstrakt von „der Barbarei des Terrorismus“ – ohne Anspielung auf die ETA. Aznar und Innenminister Ángel Acebes hielten aber an dieser These fest, auch wenn sie einräumten, dass es sich nur noch um die „Hauptlinie“ der Ermittlungen handle.

Das politische Kalkül der Konservativen

Aznar und seine Berater folgten einem politischen Kalkül. Sollte die ETA verantwortlich sein, würde dies der PP Stimmen einbringen. Im Fall von Islamisten könnten die Wähler die Attentate mit der Unterstützung Aznars für den Irak-Krieg von US-Präsident George W. Bush in Zusammenhang bringen und die Konservativen abstrafen. Auf einer Demonstration nach den Anschlägen, eine der größten, welche Madrid je erlebt hat, lautete eine der Parolen „Wer war es?“. Noch vor dem Wahltag bezichtigte die PSOE die Regierung der Lüge. Am 14. März erreichte der Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero 43 Prozent der Stimmen und besiegte den von Aznar designierten Nachfolger Mariano Rajoy.

Beweise für islamistischen Anschlag

In den folgenden Tagen tauchten immer mehr Beweise für einen islamistischen Anschlag auf. Es hätte sogar noch schlimmer kommen können. Am 3. April umstellte die Polizei eine Wohnung im Madrider Vorort Leganés, wo sich eine Terrorzelle versteckt hatte. Bei einer Sprengstoffexplosion kamen sieben Terroristen und ein Polizist ums Leben. Sie hatten wohl weitere Attentate geplant.

Das Gerichtsverfahren ordnete die Tat einem islamistischen Kommando zu, dem auch die sieben Männer in Leganés angehörten. Zwei weitere Terroristen, Jamal Zougam und Otman el Gnaoui, wurden verurteilt, auch Emilio Suárez Trashorras, ein Bergarbeiter, der den Terroristen den Sprengstoff verkauft hatte. Alle drei sind heute in Haft. 18 weitere im Zusammenhang mit der Tat verurteilte Personen haben ihre Strafe abgesessen und wurden teilweise nach Marokko abgeschoben.

Doch in der PP hielt man in den Jahren nach dem 1 1-M an der Hypothese fest, dass das Attentat irgendwie mit ETA zusammenhänge. Der Chefredakteur der Zeitung „El Mundo“, Pedro J. Ramírez, und der Radiomoderator der Cope, Federico Jiménez Losantos, befeuerten über Jahre ihre Verschwörungstheorie mit Halbwahrheiten, Manipulationen und auch falschen Informationen. Die Kampagne polarisierte die Gesellschaft enorm und wirkt bis heute nach. Einige Angehörige der Opfer des 1 1-M beklagen weiterhin, dass nicht ausreichend geklärt sei, wer und wie die Anschläge geplant und wie diese finanziert wurden.

Bush-Interview im Giftschrank

Der vorsitzende Richter, Javier Gómez Bermúdez, versichert in einer Dokumentation zum 20. Jahrestag der Anschläge im Staatssender TVE, dass die Urheber „zu 100 Prozent“ unter den Toten von Leganés seien und ein Anschlag dieser Art nicht viel Geld koste, „etwa 50.000 Euro“. Die Verschwörungstheorie habe keinerlei Grundlage. „Es wurde bewusst gelogen“, so Gómez Bermúdez, der sich selbst als konservativ bezeichnet.

TVE sendete zum Jahrestag auch ein Interview, das Präsident Bush mit seiner Frau Laura am Tag nach den Anschlägen 2004 gegeben hatte. Darin zieht er mehrfach Vergleiche zu den islamistischen Anschlägen in den USA vom 11. September 2001. Das Interview wurde noch nie gezeigt.

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