Aufstieg und Fall von Mallorca-Freund Jan Ullrich - die Amazon-Doku im MZ-Check

Die vierteilige Dokumentation ist ab Dienstag (28.11.) auf Amazon Prime zu sehen. Sie zeichnet Aufstieg und Fall eines Radsport-Helden nach, den viel mit der Insel verbindet

Ralf Petzold

Ralf Petzold

Jan Ullrichs Vergangenheit kommt in die Waschmaschine. Kochwäsche auf 90 Grad. Deutschlands einstiger Radheld wird am Samstag (2.12.) 50 Jahre alt. Ab Dienstag ist die vierteiligen Doku "Jan Ullrich - Der Gejagte" bei Amazon Prime zu sehen. Der Rostocker spricht darin erstmals offen über seine Doping-Vergangenheit¡. Auf eine Entschuldigung oder ein Schuldeingeständnis wartet der Zuschauer bis zur letzten Minute. Auch Mallorca ist erst in der letzten Folge zu sehen. In den insgesamt 200 Minuten geht es über weite Strecken darum, das Image von "Ulle" aufzupolieren und die Schuld bei anderen zu suchen.

"Ich bin Geschichte", sagt Jan Ullrich direkt zu Beginn und ärgert sich, warum er, der Tour-de-France-Sieger von 1997, heute nicht überall willkommen ist. Am Anfang wird angerissen, warum das so ist. Doping, Skandale. "Ich wusste, dass ich daneben bin. Ich habe nur drei Stunden am Tag geschlafen", sagt Ullrich. "Ich brauche Hilfe, alleine schaffe ich es nicht. Ich bekomme aber auch Hilfe." Immer wieder kommen Weggefährten und Journalisten zu Wort. Sie berichten, wie der Ex-Radprofi betrunken und zugekokst fragte: "Wo sind denn alle meine Freunde?"

Re-Tour um die Vergangenheit aufzuarbeiten

Er habe die Vergangenheit noch nicht verarbeitet, sagt Ullrich, der sich auf Anraten eines Freundes auf einen persönlichen Jakobsweg per Fahrrad, seine "Re-Tour", begibt. Mit historischen Rückblenden geht es gefühlt beim Urknall los. Die Geschichte des Dopings. Nach der Lehrstunde wird es spannend. Bereits auf einer Pressekonferenz zur Ankündigung der Doku sagte Ullrich erstmals die entscheidenden Worte: "Ich habe gedopt". In der Sendung fallen sie in dieser Form nicht, aber der Sportler gibt immer wieder Einzelheiten preis.

Doku Jan Ullrich - der Gejagte.

Doku Jan Ullrich - der Gejagte. / Constantin

Der Belgier Rudy Pevenage, damals Teamleiter bei der Telekom, habe ihn dem Kontakt zum spanischen Arzt Eufemiano Fuentes vermittelt. Beide sprechen offen darüber in die Kamera. "Es war ein sympathischer Mann. Ich hatte Vertrauen. Er hatte mir gesagt, dass es sicher sei", sagt Ullrich über Pevenage. Ullrich dopte jahrelang über Eigenblut. Die Einzelheiten will der Mediziner Fuentes nicht verraten. "Berufsgeheimnis", so der Spanier, der darauf pocht, dass er nicht für Geld gedopt habe, sondern "aus Berufung", und ein Gericht ihn von allen Anklagepunkten freigesprochen hat.

Immer wieder reist Ullrich während seiner Karriere für das Doping nach Madrid. "Ich habe es mit meinem eigenen Geld cash bezahlt", sagt der 49-Jährige. "Ich wurde informiert, dass es der Gesundheit nicht schädigt und keine Nachwirkungen hat. Das habe ich geglaubt." Moralische Skrupel hatte er keine. "Wie kann ich jemanden betrügen, der vermutlich das gleiche macht? Es ist nur eine Anpassung." Und weiter: "Ich kam in ein bestehendes System rein, war naiv und jung. Es wurde mir schmackhaft gemacht. Meine Karriere wäre zu Ende gewesen, hätte ich es nicht getan."

Schon vor der Tour de France 1996 sei er erstmals in Kontakt mit dem Doping gekommen. Die Regeln diesbezüglich seien fließend gewesen. "Man konnte es schlecht kontrollieren", sagt Ullrich.Auch über das systematische Doping von Nachwuchssportlern in der DDR ist in dem Film die Rede. Jan Ullrich sei ein Opfer des Systems gewesen und habe vermutlich schon als Kind verbotene Substanzen bekommen.

Schwere Kindheit und Naturtalent - die Jugend von Jan Ullrich

Schnitt. Nächste Rückblende. Wie kam Jan Ullrich eigentlich so weit? Seine Brüder Stefan und Thomas sowie Mutter Marianne Kaatz klinken sich ein und sprechen über die nicht einfache Kindheit des Radfahrers. Der Vater war Eisschnellläufer. "Er arbeitete viel, und am Abend ging es in die Kneipe", sagt die Mutter, die auch bedauert, dass sie wegen der vielen Arbeit kaum Zeit für ihre Kinder hatte. Jan Ullrich berichtet von einer Phase, in der er regelmäßig ins Bett machte und ihn sein alkoholsüchtiger Vater zur Bestrafung verprügelte. Auf der anderen Seite war es aber auch der Vater, der seinen Sohn erstmals auf ein Rad setzte. Das Naturtalent aus Rostock gewann schon als Kind alle Radrennen.

Der Mutter wurden die Eskapaden des Vaters zu viel, sie verließ ihn. Für die Söhne brach der Kontakt zum Papa ab. Bei einem Radrennen als Profi Jahre später habe er seinen Vater wiedergesehen, berichtet Jan Ullrich. Er steckte seinem jüngsten Sohn einen Zettel mit seiner Telefonnummer zu. Durch den Schweiß war die Nummer nach dem Rennen aber nicht mehr leserlich. "Das nächste, was ich von ihm hörte, war, dass er gestorben ist", sagt Jan Ullrich.

Einstieg bei Telekom und Tour-de-France-Sieg

Sein Jugendtrainer Peter Sager berichtet über das Wunderkind. Nach dem Fall der Mauer kaufte sich Jan Ullrich mit den 100 DM Begrüßungsgeld Adidas-Schuhe. 1995 schloss er sich dem Telekom-Team an. "80.000 Mark waren damals ein übliches Einstiegsgehalt. Ich bekam 180.000 Mark", prahlt Ullrich. Seine Teamkollegen berichten, wie der schlanke Kerl aus dem Osten bei der ersten Trainingsfahrt kaum Schritt halten konnte. Schon an den nächsten Tagen habe er aber die Führung übernommen und sei allen anderen davongefahren.

Im ersten Jahr strauchelte das Team, und die Deutsche Telekom zweifelte am Sponsoring. Für die folgende Saison wurde der Däne Bjarne Riis - heute ebenfalls geständiger Dopingsünder - verpflichtet, der als neues Zugpferd die Tour de France gewann. Ullrich wurde Zweiter.

Doku "Jan Ullrich - der Gejagte"

Doku "Jan Ullrich - der Gejagte" / Constantin

Auf seinem persönlichen Jakobsweg macht Ullrich an den Stellen Halt, an denen er seine großen Erfolge gefeiert hat. So in Andorra, der entscheidenden Etappe bei seinem Toursieg 1997. "Dort wurde ich vom Jäger zum Gejagten", sagt der 49-Jährige, der auch von einem Zwischenfall bei einer folgenden Etappe berichtet. Er musste während des Rennens aufs Klo. Groß, versteht sich. Er ließ sich von einem Teamkollegen ein Telekom-Basecap geben, verrichtete auf dem Rad darin sein Geschäft und warf es ins Gebüsch. Bei dem Hype um seine Person stürzten sich die Fans damals auf alles. Selbst auf die Kappe. "Ich habe auf der Straße gesessen und mit Freunden geweint", sagt der Jugendtrainer Sager über den anschließenden Tour-Sieg seines Schützlings.

Gründe für den Absturz von Jan Ullrich

Ab der dritten Folge wird nach und nach der Absturz Ullrichs nachgezeichnet. Es geht um die Rivalität mit dem Italiener Marco Pantani, dem Franzosen Richard Virenque und natürlich dem US-Amerikaner Lance Armstrong. Die Dokumentation lässt dabei keine Gelegenheit aus, Ullrich als Held darzustellen. Virenque unterstützte er gemeinsam mit anderen Tour-Fahrern während eines Streiks im Zuge der Festina-Affäre, eines flächendeckenden Doping-Skandals rund um das französische Team. Auf Armstrong wartete er bei einem Rennen 2003, als dieser unglücklich stürzte. Nachdem Pantani 2004 an einer Überdosis Kokain gestorben war, sei Ullrich der einzige aus der Radsportwelt gewesen, der sie aufgesucht hätte, berichtet die Mutter des Italieners. "Doping gab es immer und wird es immer geben", so die Italienerin. Schuld sei der Radsport.

Warum stürzen die Radfahrer immer wieder so ab? Ein Sportmediziner kramt eine Statistik hervor, laut welcher das Doping die Tür für andere Suchterkrankungen öffnet. Jan Ullrich glaubt, dass er durch seinen Vater die Drogenproblematik in den Genen hat. Der Franzose Virenque sieht es in den fehlenden Emotionen: "Du kämpfst dein Leben lang an vorderster Front und sitzt dann auf einmal am Schreibtisch. Natürlich trinkt man dann Alkohol, raucht und nimmt Drogen, um sich wieder wie an der Front zu fühlen", sagt er.

Ähnlich sieht es Ullrichs Bruder Stefan: "Du jagst etwas nach, was du nicht erreichen kannst. Das natürliche Belohnungssystem, die Glücksgefühle im Sport, bekommt man mit Alkohol nicht. Es ist nur ein Ersatz."

Einzig der frühere Telekom-Pressesprecher Christian Frommert gibt etwas Kontra: "Schuld sind immer die anderen", sagt er und berichtet, wie ihn Ullrich damals auf seine Nachfrage, ob er in den Doping-Skandal verwickelt gewesen sei, angelogen habe.

Alkohol, Drogen und Umzug nach Mallorca

2002 kam der Radfahrer mit Aufputschmitteln in Kontakt, die er sich in der Disco einwarf. "Es betäubt einen. Man wird kälter", berichtet Ullrich. Er verursachte einen Autounfall und beging Fahrerflucht. "Ich habe mich selber in Situationen gebracht, die nicht hätten sein müssen."

Die Mutter seines ersten Kindes verließ er für Sara Steinhauser, die "Liebe seines Lebens". Nächtelang habe ihr Sohn mit ihr telefoniert, berichtet dei Mutter Marianne Kaatz. Ullrich hatte Schuldgefühle, ob des Wechsels der Partnerin.

In der vierten Folge geht es dann richtig zur Sache. Ullrich wird einen Tag vor dem Tour-Start 2006 im Zuge der Dopingaffäre aus dem Telekom-Team geworfen. "Es hat mich so zerrissen, ich bin über Nacht zu einem anderen Menschen geworden", sagt er heute.

"Unser aller Leben war kaputt. Der Name Ullrich war im Radsport nicht mehr willkommen", sagt sein Bruder Stefan, die Mutter berichtet von Besuchen beim Psychologen. Während sich seine früheren Teamkollegen der Presse stellten und ihre Schuld gestanden, rebellierte Ullrich. Er sei kein junger Sportler mehr gewesen, der eine Doping-Sperre so einfach abgesessen hätte, begründet er sein Schweigen heute und schiebt den Schwarzen Peter schlechten Beratern zu. "Ich habe keinen betrogen und niemanden geschädigt", sagte er damals in einem TV-Interview, bei dem ihm sein "Freund" Reinhold Beckmann hintergangen habe.

"Es standen mehrere Wege zur Verfügung, ich habe mich für den dunklen entschieden", so Ullrich. Er trank, kokste, rauchte. 2014 verursachte er betrunken einen Autounfall in der Schweiz. 2015 zog die Familie nach Mallorca.

Hier wohnte Ullrich in einer Finca als Nachbar des Schauspielers, Regisseurs und Produzenten Til Schweiger. "Ich wollte aus der Depression in der Schweiz raus und auch im Winter wieder Spaß am Radfahren haben", sagt der 49-Jährige. Doch der Körper und vor allem das Knie spielen nicht mit. Ullrich versank immer tiefer im Sumpf und sorgte für eine Eskapade nach der anderen. "Was du ausstrahlst, findest du auf der Insel. Umso tiefer ich gesunken war, umso schneller waren die Leute da, die noch mehr dazu beigetragen haben", erklärt er.

Stress mit Til Schweiger und Festnahme

Bis zu 900 Zigaretten rauchte er am Tag. Fuhr mit dem Fahrrad in den Pool und wurde 2018 nach einem Streit mit Til Schweiger festgenommen. "Am Tag zuvor erklärte er mir noch, dass seine Tür immer offen steht." Als er am Tag danach den Schauspieler einladen wollte, war das Gartentor verschlossen und Ullrich kletterte über den Zaun. Schweiger sei gerade bei einem Grillabend mit Freunden gewesen und habe sich nicht sonderlich über den Anblick erfreut. "Es artete aus und irgendwann war die Polizei da", erinnert sich Ullrich. "Die Zelle war mit Kacke beschmiert und kalt. Ich musste durch die Gitterstäbe pinkeln. Ich hätte nicht gedacht, dass es sowas in Europa gibt."

Jan Ullrich

Jan Ullrich / Constantin

Seine Frau hatte Angst um sich und die drei Kinder und verließ Mallorca. Das sei der Moment gewesen, an dem Ullrich sich seiner Lage bewusst geworden sei. Die Familie heuerte einen Türsteher aus dem Rotlichtmilieu an, der die falschen Freunde auf der Finca verjagen und dem ehemaligen Radsportler wieder auf die rechte Bahn führen sollte. Er trainierte Ullrich im Boxen, worin der 49-Jährige auch sehr talentiert sein soll.

Entzug und immer wieder Rückfälle

Doch die Party wollte nicht aufhören. "Wenn ich mich heute sehe, denke ich: Das kann ich nicht gewesen sein. Harter Alkohol und Kokain: das ist ein Teufelsgemisch", sagt Ullrich. Er suchte die Betty-Ford-Entzugsklinik in Bad Brückenau auf. "Das ist mir wahnsinnig peinlich. Ich wollte vorher nochmal einen draufmachen", sagt er. Er bestellte sich eine Prostituierte in ein Luxushotel in Frankfurt, wo es zu einer "Meinungsverschiedenheit" kam. Die Dame beschuldigte Ullrich, sie gewürgt zu haben. Das dementiert der Radsportler nun. Die Klage wurde nach einer Entschuldigung und einer hohen Entschädigungszahlung fallengelassen.

Lance Armstrong besuchte ihn in der Klinik. Der Anblick sei "furchteinflößend" gewesen. "So etwas hatte ich noch nie gesehen." Ullrich entließ sich wenig später aus dem Entzug, da er unzufrieden mit dem Service war und machte sich auf die Suche nach einer anderen Klinik. "Ich war verloren", so Ullrich, der in seiner Not einen Freund mit einem Prepaid-Handy anrief. Der Freund nahm den Sportler bei sich daheim auf. Im Winter 2021 folgte der bislang letzte Rückfall, als ihn Armstrong in Mexiko abholte.

Heute bietet Jan Ullrich Touren auf Mallorca an

"Ich habe viele schöne Jahre verloren und mir das Leben schwer gemacht", sagt er nun zu seiner Lage. "Die Kinder wissen alles. Natürlich dem Alter gerecht." Seine Ex bezeichnet Jan Ullrich als guten Freund, sagt aber auch, dass sie mit den Kindern eigenständig ist. Zum Abschluss der Doku ist zu sehen, wie der 49-Jährige gemeinsam mit Lance Armstrong Radsport-Camps auf Mallorca anbietet. "Ich muss mich vor allem bei meinen Fans entschuldigen. Und wohl auch bei den Fahrern, die nicht gedopt haben", sind Ullrichs letzte Worte in der Doku.

Abonnieren, um zu lesen