Entrevista | Marta Puxan Literaturwissenschaftlerin

Tatort auf hoher See: Was eine Literaturwissenschaftlerin auf Mallorca aus Schätzings "Der Schwarm" für Schlüsse zieht

Marta Puxan leitet ein mit zwei Millionen Euro dotiertes, multidisziplinäres Projekt, das Meeresverbrechen anhand von Büchern und Filmen analysiert

Marlene Weyerer

Marlene Weyerer

Mit dem Projekt „Horizon Europe" finanziert die Europäische Union Forschungen verschiedenster Disziplinen, die mit gewohnten Strukturen brechen und neue Sichtweisen ermöglichen. Zwei Millionen Euro aus diesem Topf fließen in das Projekt der Literaturwissenschaftlerin Marta Puxan, die an der Balearen-Universität lehrt. Darin erforscht die 43-Jährige die „Narrative der Meeresverbrechen“. Es ist ein multidisziplinäres Projekt, das Probleme der wahren Welt mithilfe von Literatur und Filmen erforschen will. Die MZ hat sich diese auf den ersten Blick verkopfte Forschung von der Menorquinerin erklären lassen.

Welche Meeresverbrechen erforschen Sie in Ihrem Projekt?

Wir haben die Verbrechen in drei Typen aufgeteilt: Zum einen die Ausbeutung der Meeresressourcen, zum Beispiel durch illegale Fischerei. Zum anderen die Meeresverschmutzung, etwa durch Plastik oder Öl. Zuletzt Schäden, die der Klimawandel im Meer verursacht. Beispielsweise zerstören die steigenden Temperaturen viele Lebensräume unter Wasser. Letzteres ist ein Verbrechen, das keinen direkten Verantwortlichen hat. Die ganze Menschheit macht sich hier schuldig.

Was können wir uns unter den Narrativen von Meeresverbrechen vorstellen?

Auch Narrative haben wir auf drei verschiedene Arten definiert: Zum einen untersuchen wir wissenschaftliche Arbeiten zu Meeresverbrechen. Dadurch analysieren wir, wie der Zustand der Meere aus möglichst objektiver Sicht ist. Die zweite Art von Texten, die wir untersuchen, sind Gesetze. Der Vergleich zwischen diesen beiden Narrativen ist spannend: Denn vieles, was Wissenschaftler als schädlich oder sogar als Verbrechen gegen das Meer sehen, ist gesetzlich erlaubt. Bis zu einem gewissen Grad ist das Meer ein rechtsfreier Raum. Selbst wenn es Verbote gibt, sind sie schwer durchzusetzen. Von den meisten Verbrechen erfahren wir nie, weil niemand sie bezeugen kann. Das dritte Narrativ, das wir uns ansehen, sind ausgewählte Filme und Bücher zu dem Thema. Hier kommt meine Rolle als Literaturwissenschaftlerin zum Tragen.

Was genau kann Literatur zu Ihrer Forschung beitragen? Schließlich mischt man dadurch Wissenschaft mit Fiktion.

Literatur ist nicht immer fiktiv. Oft experimentiert sie mit der Realität und erklärt sie auch. Wenn ich einen wissenschaftlichen Beitrag zu Fischerei lese, erfahre ich alles rund um den Stand der Fischerei, vielleicht auch darüber, dass es illegale Fischerei gibt und welchen Schaden sie anrichtet. Wenn ich die Graphic Novel „The Dead Eye and the Deep Blue Sea“ von Vanak Annan Prum lese, erfahre ich viel mehr. Der Kambodschaner hat drei Jahre seines Lebens als Sklave in einem illegalen Fischerboot in Thailand verbracht, bis er fliehen konnte. In der Graphic Novel berichtet er über seine Erlebnisse. Auf solche Boote kommen weder Wissenschaftler noch Journalisten. Diese subjektive Erfahrung des Mannes ist unsere einzige Quelle für das Leben an Bord: Welche Fische sie fangen, wie sie den Fang verkaufen, die Gewalt, die die Sklaven erleben. Die Literatur verschafft uns in diesem Fall einen Zugang, den wir sonst nicht hätten. Wir erfahren dadurch, wie die Geschehnisse, die wir wissenschaftlich erfassen und gesetzlich regulieren können, das Leben der Menschen beeinflussen. Die Literatur liefert uns die Ich-Perspektive.

Marta Puxan

Die Literaturwissenschaftlerin Marta Puxan / MANU MIELNIEZUK

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Dann geht es weniger um Romane und mehr um Autobiografien?

Das war nur ein Beispiel. Wir beschäftigen uns auch mit Romanen, etwa mit Science-Fiction-Büchern wie „Der Schwarm“ von Frank Schätzing. In dieser Dystopie wendet sich die Natur gegen den Menschen, Grundlage dafür sind Verbrechen, die wir heute an Tier- und Pflanzenwelt verüben. Auch die Wissenschaft arbeitet mit Zukunftsmodellen, die sie zwar aufgrund von Daten erstellt, aber die trotzdem Spekulationen sind. Und die Literatur tut das auch, ist aber viel freier dabei. Wir können daraus herleiten, was die Gesellschaft interessiert, welche Verbrechen als besonders schlimm erachtet werden und welche Zukunftsängste die Menschheit hat. Die Literatur ist schuld daran, dass wir das Meer lange als einen Ort des Friedens idealisiert haben. Und die Welt der Bücher und Filme prägt auch heute noch unser Bild vom Meer.

Wer arbeitet in Ihrem Team mit?

Im Moment arbeite ich mit zwei Doktoranden. Einer befasst sich mit Filmen zu dem Thema, ein anderer mit Büchern.

Von wie vielen Werken sprechen wir?

Es sind etwa 40 Bücher und Filme. Es gibt natürlich schier unendlich viele, wir mussten uns auf die Werke beschränken, die sich mit Themen befassen, an denen wir arbeiten wollen. Es können aber im Laufe der Recherche noch weitere Arbeiten hinzukommen.

Warum beschäftigen Sie sich zunächst nur mit Büchern und Filmen?

Weil wir damit die Grundfragen ausarbeiten und herausfinden wollen, welche Themen besonders ambivalent sind. Dann können wir abgleichen, was die Wissenschaft und die Justiz zu diesen Themen sagen. Ob es überhaupt schon Lösungen gibt und ob es Alternativen zu diesen Lösungen gibt. Mit der zweiten Phase werden wir in eineinhalb Jahren beginnen. Dann werden auch andere Disziplinen hinzugezogen. Wir wollen mit Wissenschaftlern aus den Bereichen der Kriminologie, des internationalen Rechts, der Meereswissenschaft und der ökologischen Politik zusammenarbeiten.

Was wären Beispiele für ambivalente Themen?

Das Projekt ist auf fünf Jahre angelegt, es ist erst ein Jahr vergangen. Wir haben also noch nicht alle Themen ausgearbeitet. Ein Zugang ist, sich mit der Frage zu befassen, was überhaupt ein Verbrechen ist. Hierbei ist klar, was die verschiedenen Narrative leisten können. Wer Gesetze macht, bestimmt, was bestraft wird. Aber die Wissenschaft sagt, welche unserer Aktionen dem Meer schaden. Zum Beispiel ist das Fischen mit Schleppnetzen nicht verboten, obwohl ganz klar nachgewiesen ist, dass es am Meeresgrund viel Schaden anrichtet. Die Literatur kann dann wieder beantworten, was verschiedene Menschen für ein Verbrechen halten. So findet auch die moralische Komponente ihren Platz.

Am Ende der fünf Jahre steht also eine Liste an strittigen Themen rund um Verbrechen, die auf oder an dem Meer begangen werden?

Nicht ganz. Auch Bereiche, die scheinbar unstrittig sind, können größere Konflikte beherbergen. Zum Beispiel ist jeder damit einverstanden, dass das Meer unter internationaler Gesetzgebung steht. Auch ich finde das gut. Aber was heißt international? Selbst bei den Vereinten Nationen hat nicht jedes Land gleich viel zu sagen. Es gibt da vieles, das noch nicht ausdiskutiert ist.

Was geschieht dann mit diesen Themen?

Jedes einzelne Thema bietet anderen Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen die Möglichkeit, selbst neue Forschungen zu betreiben. Unser Projekt soll neue Blicke auf das große Ganze ermöglichen.

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