Wolfgang Cramer ist ein renommierter deutscher Geograf und Ökologe und derzeit Forschungsdirektor des französischen CNRS am Mediterranen Institut für Biodiversität und Ökologie in Aix-en-Provence. Er koordiniert MedEDD (Experten des Mittelmeerraums zu Klima- und Umweltwandel), ein unabhängiges Netzwerk von mehr als 600 Wissenschaftlern aus 35 Ländern. Im Oktober 2019 stellte er in Barcelona eine noch unvollendete Studie vor, in der erstmals sämtliche bislang erlangten Erkenntnisse über die Auswirkungen des Klimawandels auf den Mittelmeerraum ausgewertet werden. Das Ergebnis sei „furchterregend", wie Cramer in Barcelona sagte.

Was rechtfertigt diese drastische Wortwahl?

Wir beschreiben in der Studie die Risiken, die für bestimmte Regionen im Mittelmeer für die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Ökosysteme bestehen. Nachdem wir die Literatur dazu gelesen haben, stellen wir fest, dass es in mehreren Bereichen durch den Klimawandel und die schwindende Biodiversität, aber auch durch die Umweltverschmutzung erhebliche Risiken für die Menschen gibt.

Warum müssen wir davon ausgehen, dass der Temperaturanstieg am Mittelmeer höher ausfällt als anderswo?

Der Temperaturanstieg weltweit bezieht auch die großen Ozeanregionen mit ein. Dort erhitzt sich die Oberfläche nicht so schnell. Das ergibt den im Pariser Abkommen festgelegten Mittelwert von 1,5 Grad Abweichung. An Land, wo ja die Menschen wohnen, ist der Temperaturanstieg noch höher. Und durch die Trockenheit ist er im Mittelmeerraum noch einmal höher als in anderen Regionen.

Wie werden sich die Niederschläge voraussichtlich verhalten?

Niederschläge sind nicht so gut abbildbar wie etwa die Temperatur. Trotzdem stimmen alle führenden Klimamodelle darin überein, dass die Niederschläge im Mittelmeerraum insgesamt zurückgehen werden. Im südwestlichen Gebiet, also an den spanischen Küsten, steigt die Trockenheit derart, dass die heutigen Ökosysteme nicht mehr existieren können. Man kann dort von Wüstenbildung sprechen.

Wie sieht es mit Wetterextremen aus?

Heftige Niederschläge sind im Mittelmeerraum nur in manchen Regionen ausgeprägt. Die Balearen gehören dazu. Durch die höhere Temperatur der Meeresoberfläche wird es wohl mehr Stürme geben. Hinzu kommen Hitzewellen und extreme Trockenheit.

Was haben diese Veränderungen für Aus-wirkungen auf das Meer?

Es gibt auch im Meer große Hitzewellen. Sie führen bereits zu einem Massensterben mancher Arten. Dabei geht es weniger um die Fische, sondern mehr um die Lebewesen, die an den Meeresboden gebunden sind. Ein weiterer Punkt ist der Anstieg des Meeresspiegels. Die neuesten Untersuchungen gehen davon aus, dass er weltweit zum Ende des Jahrhunderts ein bis zwei Meter betragen kann. Das betrifft vor allem die Küsten. Die Folgen wären katastrophal. Es würde zwar niemand ertrinken, aber viele Feucht- und Küstengebiete gingen verloren. Viele unserer Kulturstätten und Städte liegen direkt am Meer. Venedig ist das klassische Beispiel. Ein weiterer Aspekt ist die Versauerung des Meeres, die bereits messbar ist. Das ist also keine Hypothese. Die Versauerung wird alle kalkschalenbildenden Organismen in den kommenden Jahrzehnten betreffen und zu einem Rückgang der Populationen führen. Das ist auch ein Wirtschaftsfaktor, wenn man an die Meeresfrüchte-Industrie denkt. Heute sind diese Wirkungen noch nicht zu beobachten, aber in den nächsten zehn, zwanzig Jahren steht das zu erwarten.

Laut Ihrer Studie gehören die Balearen zu der Region, wo die Meerestemperatur am meisten ansteigt. Woran liegt das?

Das Mittelmeer funktioniert wie der globale Ozean mit einer thermalen Zirkulation: In der Tiefe strömt das Wasser in die eine Richtung, an der Oberfläche in die andere. Das führt dazu, dass es keine einheitliche Veränderungen gibt. Im Fall der Balearen heißt das: Im Osten des Mittelmeers bilden sich durch die Hitze warme Wassermassen, die an der Oberfläche zu den Balearen strömen. Das kühlere Wasser aus dem Atlantik strömt in der Tiefe durch die Straße von Gibraltar nach Osten. Daher gibt es im Westen wärmeres Wasser an der Meeresoberfläche.

Welche weiteren Auswirkungen gibt es für die Ökosysteme im Meer?

Bei den marinen Ökosystemen wirken alle Faktoren zusammen: Temperaturerhöhung, Versauerung, Überfischung, Verunreinigung. Das führt zu großen Veränderungen nicht nur bei den Lebensbedingungen der Meeresbewohner, sondern auch in der Fischerei. Durch den Sueskanal kommen tropische Fischarten ins Mittelmeer, die die Arten, die an kühleres Wasser gewöhnt sind, verdrängen. Die Mittelmeer-Fische haben es so schon schwer, da sie bereits mit der höheren Meerestemperatur zu kämpfen haben und nicht nach Norden ausweichen können. Auch die Seegraswiesen und Korallenriffe werden sich stark verändern.

Wie werden sich die Ökosysteme an Land durch den Klimawandel verändern?

Zunächst einmal: Im Mittelmeerraum nimmt die Waldfläche zu. Das geht auf den Rückgang von Weideflächen zurück, den es seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt. Nun wird es einerseits wärmer, und andererseits gibt es mehr Holz in der Landschaft. Das führt zu einer erhöhten Waldbrandgefahr. Die Waldbrände werden zwar oft durch Kriminelle gelegt oder durch vergessene Zigarettenstummel verursacht. Dass sie sich zu solch großen Bränden entwickeln, liegt aber an der zunehmenden Trockenheit und Verbuschung.

Wie sieht es mit der Wasserversorgung aus?

Das ist ein regional sehr spezifisches Thema. Im Osten, zum Beispiel auf Zypern, hat man jetzt schon große Probleme, Trinkwasser zu erzeugen. Dort wird mit Entsalzungsanlagen und Rohrleitungen aus der Türkei experimentiert. Die zunehmende Wärme und damit einhergehende stärkere Verdunstung verschlimmert die Wasserknappheit. Auf allen Inseln mit Gebirge - somit auch Mallorca - wird das durch den höheren Niederschlag in den Bergen etwas abgepuffert.

Was bedeutet der Klimawandel für die Lebensmittelversorgung?

Die Produktion von Nahrungsmitteln ist stark globalisiert. Die Bewohner des Mittelmeerraumes ernähren sich nicht nur von lokalen Produkten. Der Import von Lebensmitteln wird durch den Export der eigenen Produkte finanziert. Da der Klimawandel ein weltweites Problem ist, wird es auf dem internationalen Markt zu erheblichen Verschiebungen kommen. Im Mittelmeerraum wird es durch den Klimawandel allein wohl nicht direkt zu Hungersnöten kommen. Im Maghreb kann es aber wirtschaftliche Konsequenzen geben, wenn die Landwirtschaft finanziell nicht mehr lukrativ ist. Ein wichtiger Faktor, besonders in Ägypten, ist auch die Versalzung der Böden in Küstennähe durch den Anstieg des Meeresspiegels. Im Nildelta gibt es viele Kleinbauern, die direkt an der Wasserlinie wirtschaften. Dort wird ein Anbau wohl nicht mehr lange möglich sein. Im ländlichen Bereich kann es dadurch zu Problemen in der Nahrungsmittelversorgung kommen.

Welche Gesundheitsrisiken ergeben sich für den Menschen durch den Klimawandel?

Es gibt Studien aus dem östlichen Mittelmeerbereich, dass die kühlsten Nachttemperaturen im Sommer in Städten wie Nikosia, Athen oder Amman Ende des 21. Jahrhunderts höher sein werden als die der wärmsten Nächte heute. Die Hitzewellen erreichen ein Niveau, das wir uns noch gar nicht vorstellen können. Wer dann keine Klimaanlage hat, wird es schwierig haben zu überleben. Darüber hinaus gibt es das Problem der übertragbaren Krankheiten durch Insekten, deren Bestände in den kühlen Wintern minimiert wurden. Das ist dann nicht mehr der Fall. Die Asiatische Tigermücke ist ein Beispiel. Infektionskrankheiten wie Malaria werden vermehrt auftreten. In ärmeren Ländern führt das zu großen Schwierigkeiten.

Wird der Klimawandel aus gesamtgesellschaftlicher Sicht zu Kriegen führen?

Das ist eine oft gestellte Frage. Es gibt bislang keinen Konflikt, der direkt auf Umweltveränderungen zurückzuführen ist. Der Krieg in Syrien hat primär gesellschaftliche und politische Hintergründe, aber gerade dort und in den Nachbarländern hatte die Trockenheit in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen. Das gab es mehrere Jahrtausende vorher nicht. Der landwirtschaftliche Sektor, der in Syrien eine große Rolle spielt, war davon betroffen. Die Fachliteratur geht aus, dass dieser Stressfaktor auch zum Krieg beigetragen hat. Man kann davon ableiten, dass das Konfliktrisiko mit den Wirkungen des Klimawandels zunimmt. Nicht nur in der jeweiligen Region, sondern durch die dadurch entstehenden Flüchtlingsströme weltweit.

Voraussichtlich sind die Auswirkungen im östlichen und südlichen Mittelmeerraum gravierender. Besteht die Chance, dass Mallorca verschont bleibt?

Ich habe keine spezifischen Untersuchungen für Mallorca vorliegen. Die Insel gehört zum reichen Teil Europas. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten machen den großen Unterschied aus. Man muss aber bedenken, dass der Flugverkehr ein großer Faktor sein wird. Um die Ziele vom Pariser Abkommen einzuhalten, muss der Flugverkehr abgeschafft oder auf ein Minimum beschränkt werden. Das könnte der mallorquinischen Wirtschaft, so wie es sie heute gibt, die Grundlagen entziehen.

Die Bandbreite der Prognosen ist weit. Was ist, wenn alles nicht so schlimm kommt?

Die Erwärmung und die zunehmende Trockenheit können heute nicht mehr infrage gestellt werden. Unsicherheiten gibt es nur über die genauen regionalen Ausprägungen und die möglichen Anpassungen. Die größte Unsicherheit bleibt aber, ob die Staaten der Welt in der Lage sein werden, Klimaschutz zu betreiben.

Was entgegnen Sie denjenigen, die Ihnen Panikmache vorwerfen?

Das weise ich zurück. Es gibt Grund zur Panik. Das ist so, wie wenn man auf der „Titanic" gestanden hätte und den Eisberg ignoriert und lieber das Abendessen beendet hätte.

Was soll man also tun?

Über die nächsten zehn Jahre müssen wir die Emission von Treibhausgasen stark minimieren und 2050 bei null ankommen. Das bedeutet vier Prozent Reduktion jedes Jahr. Hinzu kommt dann noch die Anpassung an den Teil des Klimawandels, der unvermeidbar ist, und für die vor allem die südlichen Länder des Mittelmeeres Hilfe brauchen.

Und wir Privatpersonen?

Das ist eine große Debatte: Was muss der Einzelne tun, was Staaten und Unternehmen. Ich bin sehr unglücklich, wenn man das gegeneinander aufrechnet. Aber es geht auch um Glaubwürdigkeit: Nur an Industrie und Politik Forderungen zu stellen, und den eigenen Lebensstil nicht anzupassen, ist nicht glaubwürdig.

Dieses Interview stammt aus dem MZ-Archiv. Es erschien erstmals im Oktober 2019.