Mit Mallorcas typischer Weihnachtsdeko, den neules, ist das so eine Sache: Neben den in westlichen Ländern verbreiteten blinkenden Lichtern und grellen Accessoires, die im Advent geradezu aufdringlich an Häuserfassaden und in Schaufenstern ausgestellt sind, wirken die farblosen Bastelarbeiten aus Papier auf den ersten Blick unspektakulär, gewöhnlich. Doch wer genauer hinsieht, merkt schnell, dass es sich bei den neules oft um richtige Kunstwerke handelt. Filigran gearbeitet, detailverliebt, und dabei so leicht und zerbrechlich, dass sie auf jeden Luftzug reagieren. Anders als der Billigramsch vom China-Laden um die Ecke vermitteln sie ein Stück Mallorca, das seinen ganz eigenen Zauber hat.

Tomàs Martínez i Miró hat genauer hingesehen – in vielerlei Hinsicht. Seit nunmehr fünf Jahren recherchiert der pensionierte Lehrer aus Sant Llorenç zu der alten Weihnachtstradition, hat sich durch Archive gewühlt und Senioren zu ihren Kindheitserinnerungen mit den neules befragt. Jetzt ist sein rund 260-seitiges Buch „Cada cosa a son temps i per Nadal, neules“ (Adia Edicions, 24 Euro) erschienen. Und damit hat er einiges vor.

Was sind die Neules eigentlich?

Der Begriff neules (Singular: neula) stammt vom lateinischen Wort nebula (Nebel) ab. „Es spielt auf jene Transparenz und Leichtigkeit an, die so typisch für diesen Weihnachtsschmuck ist“, so Martínez. Er hat die Geschichte der neules bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen können. „Damals gab es sie nur in Katalonien. Nach der Eroberung Mallorcas durch König Jaume I. gelangte der Brauch im 14. Jahrhundert auf die Insel.“ Ursprünglich handelte es sich um einfache, runde Oblaten aus esspapierartigem Mehl-Wasser-Teig, der in Eisenformen über dem Feuer geröstet wurde – ähnlich der Hostien, die Katholiken in der Messe als Leib Christi entgegennehmen. „Sämtliche Kirchen wurden damals zu Weihnachten mit Girlanden dieser Oblaten geschmückt“, so der Autor, der das Thema als erster wissenschaftlich und umfassend bearbeitet. Es sei üblich gewesen, dass die Sibil.la einst nach ihrem traditionellen Gesang in der Weihnachtsmesse ihr Schwert erhob und die Girlanden durchtrennte, sodass sie auf die Gemeinde herunterfielen und alle sich an den Teigplättchen bedienen konnten. In der Dorfkirche von Sencelles ist dieses Spektakel bis heute zu sehen, jeweils am 29. Dezember um 18 Uhr.

„Es gab Zeiten, da stürzten sich die Menschen wegen Hungersnöten geradezu auf die neules. Teilweise gab es richtige Tumulte, vermutlich wurden sie deshalb in Katalonien im 19. Jahrhundert nach und nach gar nicht mehr aufgehängt – wenn auch einzelne Gemeinden auf dem Festland seit einigen Jahren wieder damit beginnen.“

Papier statt Teig

Anders auf Mallorca: Hier schmückte man ununterbrochen jedes Jahr ab dem 8. Dezember die Gotteshäuser mit den meist weißen Zierstücken. Wobei auch hier ein Wandel stattfand: Immer mehr setzte es sich durch, die neules aus Papier statt aus Teig zu fertigen, mit schönen Verzierungen statt schlicht und rund. „Zunächst waren es vor allem Nonnen, die sich dieser feinen Hand-arbeit hingaben, aber mit der Zeit wurde es für viele Haushalte Tradition, in der Vorweihnachtszeit neules zu basteln.“

So werden die Neules gemacht

Mit einer einfachen Falttechnik und ein paar Schnitten können auch kleine Kinderhände mitmischen. Fortgeschrittene versuchen sich an komplizierteren Scherenschnittmustern. „Und einige bringen wahre Kunstwerke zustande, bei denen kleinste Details herausgearbeitet sind“, so Martínez und zeigt einige besonders beeindruckende Werke, die er von verschiedenen Hobby-Künstlern der Insel gesammelt hat. Viele weisen sakrale Motive auf, andere mandalaartige Muster oder bedeutende Gebäude Mallorcas. Statt nur in den Kirchen, sind die neules längst auch in vielen Fenstern oder an Weihnachtsbäumen der Mallorquiner zu sehen. „Im großen Stil wurde die Herstellung aber nie kommerzialisiert, es ist und bleibt eine Handwerkskunst, die auf Unikaten beruht“, sagt Martínez. Noch heute tauschen vor allem ältere Mallorquiner die besonders schönen Muster untereinander aus, um sie zu kopieren. Nur hier und da sind neules auch zu kaufen – als kleines Zubrot für den Künstler.

Anders die essbare Variante: Sie hat sich ebenfalls weiterentwickelt und sorgt in den Konditoreien – etwa als Sandwich-ähnliche Abdeckung einer Mandelmasse (coca de torró) oder auch als gefüllte Röllchen – in der Vorweihnachtszeit für klingelnde Kassen. Die Tradition der Papier-neules sei dagegen in Gefahr. „Die Generation, die sich diesem Kunsthandwerk widmet, stirbt langsam aus“, sagt Tomàs Martínez. Zumal man mit 3-D-Druckern ganz einfach billige Imitate erstellen kann. Deshalb will er im kommenden Jahr beim Inselrat dafür kämpfen, dass die Papierkunst zunächst einmal als Kulturgut eingestuft wird. Sein neues Buch soll als Argumentationsgrundlage dienen. „Die neules sind ein Schatz, der bewahrt werden muss“, sagt er.