Mallorca Zeitung

Mallorca Zeitung

Das „Null-Euro-Ticket“ auf Mallorca: Fluch oder Segen?

Bus- und Zugfahren ist für Residenten auf Mallorca mindestens bis Jahresende kostenlos. Der Ansturm auf das Gratis-Ticket ist enorm. Doch die hohe Nachfrage hat auch ihre Schattenseiten – und treibe einige sogar dazu, sich wieder ins Auto zu setzen, sagen Kritiker

Die Arbeit von Schaffner Jaume hat sich durch das Gratisfahren grundlegend geändert. Nele Bendgens

Kurz die Plastikkarte anhalten, einen Blick auf das Display des handlichen Kontrollcomputers werfen, alles in Ordnung. Es dauert nur wenige Sekunden, wenn Jaume Sastre die Fahrkarten überprüft. Es ist Dienstagmorgen (7.2.), kurz nach 10 Uhr, und wir begleiten den Kontrolleur auf der Strecke Manacor–Inca auf Mallorca. Draußen prasselt der Regen an die Zugfenster, im Inneren ist es angenehm ruhig. Viele Plätze sind frei, die meisten Fahrgäste starren schweigend auf ihre Smartphones.

Für Jaume Sastre ein willkommenes Intermezzo. Sein Arbeitstag begann bereits um 5.20 Uhr in Sa Pobla und wie üblich alles andere als ruhig. In vollen Waggons, mit genervten Fahrgästen, die pünktlich zur Arbeit kommen wollten – so wie immer zu den frühmorgendlichen Stoßzeiten. Nur dass es in den vergangenen Wochen immer voller, immer enger, die Stimmung immer angespannter geworden ist. „Seit September dürfen die Residenten gratis Zugfahren. Das merkt man. Und wie“, sagt Sastre. Dabei hat er noch Glück: Auf der am meisten ausgelasteten Strecke Inca–Palma ist er nur selten im Einsatz.

Kaum noch Schwarzfahrer

Es hat sich herumgesprochen, dass der öffentliche Nahverkehr – seit Anfang Januar auch in den Überlandbussen – bis mindestens Ende des Jahres für all jene kostenlos ist, die auf der Insel gemeldet sind. Eine Subvention aus Madrid macht es möglich. „Und wenn es etwas gratis gibt, dann wollen die Leute es auch haben“, sagt Jaume Sastre. Als er vor 22 Jahren erstmals den Dienst als Schaffner in Mallorcas Zügen antrat, gestaltete sich seine Arbeit noch anders. Damals hatten die Passagiere Papierfahrscheine, und Sastre hantierte mit einem Locher mit Sternchenmuster. An jeder Haltestelle galt ein anderer Tarif, nicht selten versuchte der ein oder andere sich im Schwarzfahren.

„Das gibt es in den vergangenen Monaten kaum noch“, sagt Sastre und hält kurz inne. Das Kontrollieren sei eher zur Formsache geworden. „Ich erwische höchstens mal jemanden, der mit einer Karte herumfährt, die nicht auf seinen Namen ausgestellt ist.“ Auch an diesem Morgen, kurz vor Sineu. Ein junger Mann, der wohl mit der Karte seines Sohnes fährt. Doch Sastre ist kein Hardliner. Geduldig erklärt er dem Mann, dass die Fahrt zwar kostenlos sei, er aber eine auf seinen Namen ausgestellte Karte braucht.

Einer meiner Kollegen ist die Strenge in Person. Früher hatte er Blöcke mit Anzeigen gegen Schwarzfahrer vollgeschrieben“, sagt Sastre. Aber selbst der täte jetzt kaum noch Übeltäter auf. Stattdessen bleibt es meist bei Ermahnungen. „Bitte nehmen Sie doch die Beine herunter“, sagt Sastre zu einer jungen Frau, die mit ihren nassen Schuhsohlen einen gegenüberliegenden Sitz beschmutzt. Es ist eines der wenigen Male, in denen der 50-Jährige an diesem Morgen mehr als nur ein „Bon dia“ mit den Fahrgästen wechselt.

In seinem Beruf hat er schon alles erlebt. „Wirklich alles“, sagt er. Betrunkene, die in den Waggon pinkeln oder sogar koten. Schlägereien. Stammgäste, die sich ineinander verlieben. Medizinische Notfälle. Kopulierende Paare. Menschen, die trotz seiner sympathischen Art aggressiv reagieren, Fahrgäste, die ihm ihre Lebensgeschichte ausbreiten. „Auch meine Frau habe ich im Zug kennengelernt. Das war allerdings, als ich noch als Weichensteller gearbeitet habe.“ Fast 25 Jahre ist das nun her. In dieser Zeit habe sich vieles verändert. Digitalisierung und technische Fortschritte, neue Haltestellen und sogar neue Zugstrecken kamen hinzu. Und jetzt also das Gratisfahren.

17.000 Karten ausgegeben

Karte vorzeigen ist beim Zugang zum Gleis noch immer Pflicht, kostet aber nichts mehr. |

Um Zug oder Bus gratis zu nutzen, müssen die Bewohner von Mallorca lediglich die sogenannte „Tarjeta Intermodal“ vorweisen können. Der Ansturm auf das gute Stück im Scheckkartenformat ist in den vergangenen Wochen regelrecht explodiert. Früher stellten die Mitarbeiter an den Schaltern in Palma, Manacor, Alcúdia und Inca in einem Monat etwa 5.000 Karten aus, im Januar waren es 17.000. Und genau darauf legt man es auch an. Das balearische Verkehrsministerium hat eine Kampagne gestartet, um die Leute dazu zu bringen, sich die Karte anzuschaffen.

Als die MZ am Donnerstagmorgen (2.2.) im Rathausgebäude in Cala Ratjada vorbeischaut, wimmelt es dort nur so von Menschen. Fast alle wollen „diese neue Fahrkarte“ beantragen – die eigentlich gar nicht so neu ist. Normalerweise muss man vom Küstenort aus bis Manacor fahren, um sie zu bekommen. Doch an jenem Vormittag sind extra Verwaltungsmitarbeiter der Landesregierung in die Gemeinde gekommen, um den Service einmalig vor Ort anzubieten.

Auch in anderen Inseldörfern geht man derzeit aktiv auf die Menschen zu. „Das ist bequem für uns. Ich beantrage gleich Karten für meine ganze Familie“, sagt Carmen, eine junge Mutter, die mit Passfotos und Ausweisen in Cala Ratjada wartet, dass sie an die Reihe kommt.

Alle sind begeistert, aber nicht alle steigen um

Auch an Palmas Drehkreuz, der Plaça d’Espanya, wo die Tarjeta Intermodal ständig ausgestellt wird, steppt am Freitagmorgen (3.2.) der Bär. Einige Kartenanwärter warten bereits seit fast zwei Stunden. Jeder muss eine Zahl ziehen, so soll der Ansturm geordnet abgewickelt werden. Unter ihnen ist auch die Katalanin Laia, die seit 20 Jahren auf der Insel wohnt, aber nie auf die Idee gekommen war, sich eine Karte ausstellen zu lassen – bis jetzt. „Klasse, dass die öffentlichen Verkehrsmittel nun kostenlos sind“, sagt sie.

So kommen Residenten an die Tarjeta Intermodal

Die Ausstellung der Tarjeta Intermodal, die zumindest 2023 zur kostenlosen Nutzung von Zug und Bahn berechtigt, ist für alle, die einen angemeldeten Wohnsitz auf Mallorca haben, kostenlos. Allerdings muss auf jede Karte einmalig ein Guthaben von 5 Euro geladen werden. Permanent ist die Ausstellung an den TIB-Schaltern in Palma, Inca, Manacor und Alcúdia möglich. Ausnahmsweise kann die Karte an diesem 9. Februar auch im Bürgerbüro von Colònia de Sant Jordi und am 10. Februar in Ses Salines ausgestellt werden. Zur Beantragung braucht es Kopie und Original eines Ausweisdokuments, ein Passfoto sowie – falls die Adresse nicht im Ausweis vermerkt ist – ein „Certificado de Empadronamiento“.

Trotzdem werde sie zur Arbeit vermutlich weiter mit dem Auto fahren. Das sei einfach praktischer, gerade weil sie oft schwere Sachen transportieren müsse. Xavier Soto aus Palma hat hingegen die Vorzüge der Bahn für sich entdeckt. Die hohen Benzinpreise in Kombination mit den Gratis-Öffis haben ihn dazu gebracht. „Ich brauche mit dem Zug zwar 40 Minuten länger, um meine Freundin in Binissalem zu besuchen, aber das lohnt sich auf jeden Fall“, sagt er.

Langjährige Autofahrer, die ihre Gewohnheiten umstellen und den Wagen stehen lassen, um Bus oder Bahn zu fahren – genau so haben es sich die Verantwortlichen vorgestellt. Es geht ums Klima, natürlich, aber auch darum, dass die linksgrüne Regierung bei den Regionalwahlen im Mai wiedergewählt werden möchte. Das „Null-Euro-Ticket“ ist dabei die Fortsetzung einer breiter angelegten Mobilitätsoffensive. Seit 2019 hat sich die gesamte Struktur des öffentlichen Nahverkehrs verändert. Am 1. Januar 2021 startete ein neues Streckennetz mit nagelneuen Überlandbussen und 50 Prozent höheren Frequenzen. 2022 kamen in der Energiekrise das kostenfreie Bahnfahren sowie Rabatte bei den Überlandbussen hinzu.

Holländer am Werk

Maßgeblich an der Ausarbeitung der Strategie beteiligt war ein Niederländer: Maarten van Bemmelen, Geschäftsführer des Konsortiums für öffentlichen Nahverkehr auf Mallorca (Consorci Transports Mallorca, CTM). „Selbst wenn der Nahverkehr irgendwann wieder etwas kostet, werden viele bis dahin bemerkt haben, wie gut er funktioniert“, sagt er. Im Januar 2022 seien 120 Prozent mehr Menschen Bus gefahren als im Januar 2019, vor Corona, sagt van Bemmelen. Es spricht dabei für ihn, dass er diese Statistik selbst relativiert. Schon im April 2022 seien aufgrund der hohen Benzinpreise mehr Menschen Zug gefahren. Und im September sei die Anzahl der Fahrgäste mit dem Schuljahresbeginn noch einmal gestiegen.

Auch in Palmas Stadtbussen fahren Mallorca-Bewohner seit Anfang des Jahres kostenlos, und auch hier ist der Zuwachs extrem: Das städtische Transportunternehmen EMT verzeichnete im Januar 2023 mehr als eine Million mehr Fahrgäste als ein Jahr zuvor um diese Zeit. Bei einigen Strecken, wie der Flughafenlinie A1, sei sogar ein Zuwachs von 84 Prozent zu verzeichnen, heißt es in den aktuellen Statistiken. Auch hier allerdings ist die Vergleichbarkeit eingeschränkt: Im Januar 2022 waren wegen Corona noch weniger Menschen unterwegs.

Trotz der erhöhten Nachfrage ist es sowohl in Palmas Stadtbussen als auch bei den Überlandbussen bisher nur zu vereinzelten Engpässen gekommen. Nur hin und wieder beschwerten sich Nutzer wegen überfüllter Fahrzeuge. Laut van Bemmelen ist das Problem bei den Bussen relativ flexibel lösbar. Wenn eine Strecke stark ausgelastet sei, könnten weitere Fahrzeuge hinzukommen. Bei Palmas Stadtbussen sind bereits 22 der insgesamt 44 angekündigten neuen Fahrzeuge in Betrieb genommen worden.

Überfüllte Züge

Anders bei den Zügen: „Die Züge werden nicht von einem Tag auf den anderen gebaut“, räumt Maarten van Bemmelen ein. Trotzdem will der Niederländer nichts davon hören, dass die Einführung der Gratisnutzung überstürzt erfolgt sei. Doch sowohl Gewerkschafter als auch Nutzerverbände der öffentlichen Verkehrsmittel werfen der Verwaltung genau das vor. „Vor Kurzem wurde endlich angekündigt, dass fünf neue Züge angeschafft werden sollen. Aber der erste davon dürfte frühestens Ende des Jahres einsatzbereit sein“, sagt Miquel Àngel Vadell vom Betriebsrat von Mallorcas öffentlichem Eisenbahnunternehmens SFM.

Keine Masken mehr in Zug, Bahn und Flugzeug

Als eines der letzten Länder der Europäischen Union hat jetzt auch Spanien die Corona-Maskenpflicht im öffentlichen Personenverkehr abgeschafft. Weder in Bussen und Zügen noch in Flugzeugen muss somit seit Mittwoch (8.2.) Mund- und Nasenschutz getragen werden. Die Maskenpflicht gilt nur noch in medizinischen Einrichtungen – zum Beispiel in Krankenhäusern und Arztpraxen – sowie in Apotheken und Seniorenheimen.

„Gratisnutzung schön und gut, aber es fehlt von vorne bis hinten an Planung und Koordination“, wettert der Gewerkschafter. Und an Geld. „Das letzte Mal, dass bei der SFM neue Leute eingestellt wurden, war 2007. Seitdem ist die Aktivität um 40 Prozent gestiegen, aber durch Verrentungen haben wir 75 Mitarbeiter weniger als damals“, rechnet er vor. Das gehe so weit, dass Züge manchmal schon dann ausfielen, wenn ein Zugführer krank ist. Auch an Schaffnern fehle es. „80 Prozent der Züge fahren ohne Zugbegleiter, der Zugführer ist dann bei jeglichen Problemen auf sich alleine gestellt. Die Mitarbeiter sind seit Jahren überlastet, und nun kommt auch noch dieser Fahrgastanstieg hinzu. Es war vorprogrammiert, dass das nicht gut gehen kann“, sagt Vadell.

Das sieht Teresa Sastre ähnlich. Die Sprecherin der mallorquinischen Vereinigung der Bahnfahrer, Associació d‘Usuaris del Tren, wirkt aufgebracht, wenn sie sich über die Zustände in den Zügen in den vergangenen Wochen auslässt. „Schon bevor alles kostenlos wurde, war die Nachfrage für die Anzahl der Züge und Mitarbeiter zu hoch“, sagt sie. Vor allem morgens ab 6.30 Uhr bis etwa 9 Uhr, wenn erst Bankangestellte, Krankenhausfachkräfte, Behördenmitarbeiter und dann Verkäufer, Schüler und Studierende aus den Dörfern nach Palma führen. „Seit wegen der Gratisnutzung auch Menschen den Zug nehmen, die es vorher nie getan haben, sind die Zustände zu den Stoßzeiten geradezu chaotisch“, sagt Sastre. Man drängele sich nicht nur – oft sei ein Zusteigen gar nicht möglich. „Häufig fahren gleich zwei Züge an den Haltestellen vorbei, weil sie voll sind.“

Immer wieder gebe es Beschwerden. „Das geht so weit, dass mehrere langjährige Fahrgäste wieder aufs Auto umsteigen, weil sie es sich nicht erlauben können, regelmäßig zu spät zur Arbeit zu kommen“, meint die Verbandssprecherin. „Es kann nicht sein, dass sie den Nahverkehr einerseits so aktiv bewerben, andererseits aber nichts dafür tun, dass dessen Qualität immer weiter abnimmt.“ Genau wie Gewerkschafter Vadell kritisiert Sastre die „mangelnde Planung“. „Es fehlt an Vorlaufzeit und entsprechenden Maßnahmen. Anstatt den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten, wäre es sinnvoller, moderate Preise zu verlangen und von dem Geld den Service zu verbessern.“

Das schreibt die Regierung

Die Verantwortlichen im balearischen Verkehrsministerium weisen die Vorwürfe im schriftlichen MZ-Interview knapp zurück. „Im April 2022 wurde die Taktung der Züge zwischen Inca und Palma auf 10 Minuten erhöht, die zwischen Sa Pobla Manacor und Palma auf alle 40 Minuten“, heißt es. Zudem habe man nicht nur die Aufstockung der Fahrzeugflotte von fünf neuen Zügen beschlossen, sondern auch die Anstellung von 30 neuen Mitarbeitern bei der Bahngesellschaft. „Aber die Leute müssen zunächst geschult werden. Ich glaube nicht, dass sie vor Ende des Jahres ihren Dienst antreten werden können“, kommentiert Gewerkschafter Miquel Àngel Vadell.

Zurück im Zug mit Jaume Sastre. Durch den Regen kommt wieder der Bahnhof von Manacor in Sicht. Der Zug verlangsamt, die Fahrgäste steigen ebenso schweigsam aus, wie sie eingestiegen sind. Einige nehmen unverzüglich die Maske ab. Zum letzten Mal. Ab Mittwoch (8.2.) ist die Maskenpflicht ohnehin aufgehoben. Noch ein Aspekt, um den sich Schaffner Jaume Sastre dann nicht mehr zu kümmern braucht. Es geht mittlerweile auf Mittag zu. Noch zwei Stunden Dienst liegen vor ihm, bis 14 Uhr. Wenn kurz darauf die zweite Rushhour des Tages in den Zügen beginnt, und die Leute sich wieder quetschen wie die Ölsardinen, ist er bereits auf dem Heimweg. Verschnaufpause – bis zum nächsten Morgen.

Artikel teilen

stats