Mallorca Zeitung

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Katholiken auf Mallorca verehren einen Knochen des Heiligen Sebastian. Was steckt hinter dem Glauben?

Vor 500 Jahren kam eine Reliquie des Märtyrers auf die Insel. Im Januar 2024 wird diese Ankunft mit mehreren Veranstaltungen groß gefeiert

Dieser Unterarmknochen soll ein Wunder bewirkt haben. FOTO: Kathedrale von Palma

Mit namhaften Reliquien ist es wie mit berühmten Kunstwerken: Die Versuchung, sie zu fälschen, weil Geld und Ruhm winken, war schon immer groß. 2021 fanden Forscher heraus, dass die Gebeine der Apostel Philippus und Jakobus des Jüngeren, die jahrhundertelang in der Kirche Santi Apostoli in Rom angebetet worden waren, von Menschen stammten, die in der Zeit zwischen 214 und 340 nach Christus gelebt hatten; die Knochen konnten nicht zu den Aposteln gehören, die zu Lebzeiten von Jesus auf der Welt waren.

2017 verkündeten türkische Wissenschaftler, sie hätten bei der Stadt Demre Gebeine des Heiligen Nikolaus entdeckt. In Italien sorgte diese Behauptung für Unmut, denn dort werden seit fast tausend Jahren angeblich die echten sterblichen Überreste des Bischofs Nikolaus von Myra verehrt. Italienische Seefahrer sollen die Reliquien im Jahr 1087 aus der Türkei geraubt und nach Bari gebracht haben.

Patron gegen die Pest

Vor dem Hintergrund solcher Fälle sind durchaus Zweifel angebracht, wenn die Kathedrale von Palma, immerhin einer der größten Sakralbauten in Spanien, nun den 500. Jahrestag der berühmtesten Reliquie der Insel begeht: Ein Armknochen des Stadtheiligen von Palma, Sant Sebastià, soll 1523 nach Mallorca gebracht worden sein. Dank ihm sollen die Bewohner damals die Pest besiegt haben.

„Viele christliche Urlauber wollen die Reliquie sehen“, sagt Rafel Morro, der Archivar der Kathedrale, „ich glaube, dass sie echt ist.“ Die Arbeit der zwei Schmiede, die 1540 ein Gehäuse für die Reliquie formten, sei sehr kunstvoll. Darum bestaunten auch Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften das Stück.

Knochen hinter Glas

Eine elliptische Öffnung, die sich in der Mitte der kegelförmigen vergoldeten Hülse befindet, gibt den Blick auf den Knochen frei. Auf einem achteckigen Sockel sind Zierleisten aufgesetzt, sie bilden eine Pyramidenstruktur, in der sich dekorative Elemente abwechseln: extravagante Bordüren, Zinnen und Wasserspeier. Die einzigen figurativen Bilder sind winzige Darstellungen von Sant Sebastià.

Bei dem Heiligen soll es sich um einen italienischen Soldaten gehandelt haben, der für sein Glaubensbekenntnis ermordet wurde. Er starb am 20. Januar 288. Und rund um dieses Datum Anfang des Jahres feiert die Stadt Palma heute mehrere Tage lang ihren Schutzpatron, mit Grillpartys, Umzügen, Konzerten oder Fahrradausfahrten.

Was ist dran an der Legende?

Spannender als die Fragen, ob diese Reliquie denn nun echt ist oder nicht und wie das mit dem Ende der Seuche tatsächlich war, ist die Geschichte dieses Glaubens. Warum kamen Menschen überhaupt auf die etwas gruselige Idee, Knochen von Toten zu huldigen?

Die ersten im Christentum verehrten Reliquien stammten von Polykarp von Smyrna. Der Bischof, der von 69 bis 155 nach Christus im heutigen Izmir lebte, zählt zu den apostolischen Vätern, den Verfassern bedeutender Schriften. Aus dem antiken Totenkult hatten Christen den Brauch übernommen, sich am Geburtstag des Toten – das war nach christlicher Überzeugung der Todestag, an dem der Verstorbene gen Himmel fuhr – am Grab eines Märtyrers zu versammeln, um das Totenmahl einzunehmen.

Stich von Theodor van Merlen. Heilige schützen vor der Pest. FOTO: Wellcome Collection

Ambrosius, der Bischof von Mailand, begann damit, Gräber von Märtyrern zu öffnen und Gebeine herauszuholen. Im vierten Jahrhundert baute Kaiser Konstantin Kirchen über Märtyrergräbern und trug damit zur Verbreitung des Reliquienkults bei. Christen sammelten nun Kleidung von Heiligen. Eine Sonderform bei Reliquien bilden Stoffe, die Heilige berührt haben sollen.

Im 6. Jahrhundert kam eine Sitte hinzu: Geistliche stellten den Sarg des Verehrten hinter dem Altar auf, etwas erhöht – manche Kirchenhistoriker sehen darin eine frühe Form der Heiligsprechung. Bald gab es keinen Altar ohne Reliquien mehr. Die Verstorbenen wurden zu Patronen der Kirche erklärt.

Geheilt durch einen Schatten

Das Neue Testament enthält einige Geschichten über Reliquien, etwa die der Frau, die zwölf Jahre an Blutungen gelitten haben soll und von Ärzten nicht geheilt werden konnte. Im Matthäus-Evangelium steht, dass sie nur den Saum von Jesu Gewand berührt und dadurch Heilung erfahren habe. In der Apostelgeschichte reicht sogar ein Schatten des Apostels Petrus, der auf Kranke fällt, um diese zu heilen. Dem Heiligen Paulus wiederum stibitzen Diebe Taschentücher und legen sie auf Notleidende, „da wichen die Krankheiten, und die bösen Geister fuhren aus“. Veranlasst durch Berichte von vermeintlichen Wundern schrieben die Menschen den Reliquien seit dem Frühmittelalter eine besondere Wirkung zu.

Reliquien machen reich

Große Kathedralen wie die in Palma verdanken ihre Popularität und ihren Reichtum hochverehrten Reliquien – der Kölner Dom etwa beherbergt welche der Heiligen Drei Könige und Reliquien der Heiligen Ursula. Geistliche versuchten, bedeutsame Überbleibsel zu ergattern und Kirchen zu Wallfahrtsorten zu machen. Plötzlich erblühte der Handel, der mit teilweise falschen Reliquien betrieben wurde. Martin Luther kritisierte das. Im Jahr 1546 wetterte der Reformator in der Frauenkirche zu Halle während einer Predigt gegen den „Reliquienkram“ des Erzbischofs Albrecht. Im Zuge des reformatorischen Bildersturms, bei dem Skeptiker Gemälde oder Skulpturen aus Gotteshäusern entfernten, kamen auch viele Reliquien abhanden.

Als 1844 Pilger den Heiligen Rock von Jesus sehen wollten, hatten viele nur Spott für die Gläubigen übrig. „Freifrau von Droste-Vischering, Vi-Va-Vischering zum heil’gen Rock nach Trier ging“, heißt es in einem zeitgenössischen Lied. Der Autor Rudolf Löwenstein schrieb es, weil 500.000 Pilger in die alte Römerstadt zogen, um an der in einem Stück gewebten Tunika Jesu Christi zu beten. Allen Buhrufen zum Trotz pilgern auch heute immer noch viele zu Reliquien, und das katholische Kirchenrecht empfiehlt nach wie vor die Bergung von Reliquien in einem Altar.

Angst vor dem Sterben

Religion ist universell, es gibt spirituelle Praktiken in allen Kulturen und Gesellschaften. Eine einleuchtende Erklärung für ihre Existenz stammt von dem Religionssoziologen Detlef Pollack. Ihm zufolge haben Menschen mit religiösen Riten versucht, Einfluss auf Naturgewalten zu nehmen. Man kann das auch mit Kontingenzbewältigung umschreiben. Der Begriff des Soziologen Niklas Luhmann meint, dass Menschen versuchen, Unsicherheiten zu kontrollieren, etwa dadurch, dass sie Dingen einen Sinn verleihen.

Die größte Ungewissheit ist, was nach dem Tod passiert. Theorien sagen, die Angst vor dem Sterben sei der Ursprung aller Religionen. Davor bewahren Reliquien. Denn die Seele der Heiligen ist bereits bei Gott. Bei der Auferstehung am Jüngsten Tag wird der Leib mit der Seele vereint und kommt auch in den Himmel. Im Knochen des Heiligen Sebastian ist also etwas enthalten, was bei der endgültigen Auferstehung nach oben zu Gott strebt und Gläubige, die einen Teil seines Körpers besitzen oder angefasst haben, mitreißt.

Trinken aus der Hirnschale

Schon Mitte des 14. Jahrhunderts gab es in der Kathedrale von Palma einen Altar mit Reliquien von Sant Sebastià: das Stück einer Rippe und eine Pfeilspitze, beides wird heute im Archiv aufbewahrt. Nach seiner Ermordung war der Leichnam in die cloaca maxima geworfen worden, einen städtischen Abflussgraben in der Nähe des Tiber. Dort soll die junge Lucina ihn geborgen und an der Via Appia in der Nähe der Apostelkirche ad catacumbas („in der Senke“) bestattet haben.

Wer glaubt an Wunder?

In der Sebastiani-Kapelle im bayerischen Ebersberg wird seit dem Jahr 931 seine Hirnschale verehrt. Aus ihr tranken Gläubige Messwein. Manchmal tun Menschen eben Dinge, die lassen sich auch mit der Wissenschaft nicht erklären. Albert Einstein brachte das so auf den Punkt: „Es gibt nur zwei Arten zu leben. Entweder so, als wäre nichts ein Wunder oder so, als wäre alles ein Wunder.“

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