Mallorca Zeitung

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„Was hält mich eigentlich noch in Deutschland?“ – Wie es ist, für die Enkel nach Mallorca auszuwandern

Wenn der Nachwuchs auf die Insel zieht, reißt das Familien auseinander. Aber man kann es ihm ja gleichtun. Großeltern berichten von ihren Erfahrungen

Petra und Horst Wedemeyer sind die (Stief-)Eltern von "Goodbye Deutschland"-Auswanderer Steff Jerkel. Nele Bendgens

Wenn Helga Lützelberger-Noetzel heute darüber nachdenkt, hatte sich die Entscheidung ihrer Tochter Vanessa Gieser, nach Mallorca auszuwandern, schon Monate vorher abgezeichnet. Wahrhaben wollte sie dennoch nicht, dass sie bald weit weg von ihr leben würde. „Meine Kinder hatten immer alle möglichen Ideen. Daher habe ich es anfangs nicht so ernst genommen“, erinnert sich die mittlerweile 74-Jährige. „Sie hatte sich vor nicht einmal zwei Jahren das Haus bei Hamburg gekauft“, vor allem an diesem Gedanken hielt sich die zweifache Mutter lange fest.

Als ihre Tochter dann einen Makler einschaltete, der das Haus verkaufen sollte, habe sie Schnappatmung bekommen, sagte sie. Als „Granny“, wie sie sich selbst bezeichnet, war sie in den Familienalltag ihrer jüngeren Tochter Vanessa fest eingebunden. Die drei Enkel ihrer viel älteren Tochter Sue Giers waren hingegen aus dem Gröbsten heraus.

Plötzlich verlassen

Doch ihrer Vanessa war die Umgebung nahe Hamburg zu ländlich. Hinzu kam das tägliche Grau in Grau. Im Herbst 2019 stand nach mehreren Besuchen einer Freundin, die schon auf der Insel lebte, fest: Vanessa Gieser wollte in Deutschland definitiv alle Zelte abbrechen, alles verkaufen und weg – gen Sonne.

Helga Lützelberger-Noetzel mit Töchtern und Enkeln. Privat

Die Nachricht traf ihre Mutter schwer. „Es erfüllt mein Leben, meine Enkel aufwachsen zu sehen und mit ihnen Zeit zu verbringen. Der Gedanke, dass ich in ihrem Leben bald nicht mehr so präsent sein werde und meine Familie weit weg sein wird, hat mich ein Vierteljahr lang nicht mehr schlafen lassen. Man verliert nicht nur eine Aufgabe, es fühlt sich auch an wie Liebesentzug“, sagt die gelernte Grafikerin, die heute auch als Model für die Modemarke ihrer beiden Töchter (SoSUE) arbeitet.

Bei Julia H. war es etwas anders. Die mittlerweile 64-Jährige hatte sich für ihre Tochter immer gewünscht, dass sie eines Tages auf Mallorca lebt. Dort ist damals auch ihr Vater hingezogen, von dem Julia H. schon viele Jahre lang getrennt ist. So weit die theoretischen Überlegungen. Die Tatsache, dass Julia H. mit der damals 19-Jährigen noch unter einem Dach lebte, machte den Wegzug in der Praxis dann aber doch deutlich schwerer.

„Wenn man sein Kind quasi alleine erzieht, ist die Bindung zwischen Mutter und Tochter oft besonders stark. Wenn das Kind dann auszieht, egal ob nach München oder Mallorca, blutet einer Mutter natürlich das Herz“, erzählt Julia H., die sich trotzdem für ihre Tochter freute – vielleicht auch, weil sie ebenfalls schon mal überlegt hatte, später als Rentnerin in Richtung Sonne zu ziehen.

Die Eltern des "Goodbye Deutschland"-Auswanderers

Den Gedanken, die kommenden Jahre fernab ihres Sohnes Steff Jerkel und ihrer Schwiegertochter Peggy Jerofke zu verbringen, fanden auch Petra und Horst Wedemeyer gar nicht schön. Jerkel, den viele aus der Vox-Sendung „Goodbye Deutschland“ kennen, und seine einstige Partnerin zogen 2007 nach Mallorca.

Jerkels Mutter und ihr Partner gönnten dem Paar zwar sein neues Leben unter der Sonne, im Inneren waren sie aber traurig. „Wir haben viel mit ihnen telefoniert und sie auch besucht. Doch mit dem Besuchen ist das so eine Sache: Ich fliege nicht gerne, zudem waren Stephan und Peggy mit ihren Lokalen schon immer sehr beschäftigt“, erzählt Petra Wedemeyer. Jerkels Mutter und ihr Partner hatten große Sehnsucht nach ihren „Kindern“. Dabei war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ihre Enkelin Josephine auf der Welt.

Petra Wedemeyer ginge es aufgrund ihrer Rheumaerkrankung zudem sehr schlecht. Ihr Sohn versuchte, sie zu ermutigen: Die Insel würde nicht nur die Familie zusammenbringen, sondern auch ihrer Gesundheit guttun. Das bestätigte dann auch Wedemeyers Arzt. Innerhalb von nicht einmal drei Monaten beschlossen die Wedemeyers, ihr Zuhause in Norddeutschland aufzugeben. 2008 zogen sie nach Mallorca.

Tränen zum Abschied

Bei Julia H. war es ein Schlüsselmoment im Oktober 2014, in dem sich ihr Wunsch verfestigte, in der Nähe ihrer Tochter zu leben. Direkt nach der Geburt ihres Enkels hatte sie ihre mittlerweile 38 Jahre alte Tochter zwei Wochen lang zur Unterstützung auf Mallorca besucht. Es war eine intensive Zeit. Schließlich sah sie ihren Enkel zum ersten Mal und erlebte, wie ihre Tochter langsam in die Mutterrolle hineinwuchs. Als Julia H. nach dem Aufenthalt von dem Haus ihrer Tochter nahe Palma aus ins Taxi zum Flughafen stieg, stand ihre Tochter mit dem Kleinen im Arm da und winkte ihr von der Terrasse aus zu. Mutter und Tochter weinten bitterlich. „Es hat mir im Herzen wehgetan, zu wissen, dass ich mein Kind in einer so neuen Situation alleine lasse. Es war grauenhaft“, erinnert sich die 64-Jährige, die Mallorca während vieler Urlaube in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon gut kennenlernen konnte.

Dass sie als Rentnerin in südlicheren Gefilden als Deutschland leben will, wusste sie schon lange. Dass es letztlich Mallorca sein würde, kristallisierte sich erst mit der Geburt ihres nun neun Jahre alten Enkels heraus. Ihr neuer Partner war sofort einverstanden. Im Dezember 2019 verkaufte das Paar das Haus in Husum an der Nordsee, packte seinen ganzen Hausrat ein und zog – zunächst als Privatiers, später als Rentner – in ein recht spontan gekauftes Haus in Ariany. „Ich bin froh, dass wir einige Jahre früher als geplant ausgewandert sind. Mit 65 Jahren hätte ich es wahrscheinlich nicht mehr gemacht. Ein Dorfhaus mit hydraulischen Fliesen zu restaurieren und sein soziales Umfeld zu verlassen, kostet mentale und auch körperliche Kraft“, so Julia H., die davor viele Jahre lang einem sehr fordernden Job in der Erwachsenenbildung nachgegangen war.

Helga Lützelberger-Noetzel auf Mallorca. Nele Bendgens

Ihr Zuhause in Deutschland ganz aufzugeben, wäre für Helga Lützelberger-Noetzel nicht infrage gekommen. Doch sich alle drei bis vier Wochen nach den Mallorca-Besuchen bei ihrer Tochter unter Tränen von ihr zu verabschieden, setzte ihr immer wieder zu. Wochenlang versuchte auch Vanessa, ihr das Inselleben schmackhaft zu machen. Als die 74-Jährige nahe Hamburg mal wieder in einen grauen Himmel blickte, während auf Mallorca die Sonne schien, dachte sie: „Was hält mich hier eigentlich noch?“

Nicht alle Brücken abbrechen

Auf der Immobilien-Plattform Idealista sah sich die Familie nach einer Mietwohnung für sich um. Sie wurde fündig: Eine Wohnung mit Meerblick im Hafen von Portals Nous, zehn Minuten von Vanessas Wohnung entfernt, sollte ihr neues warmes Zuhause werden. Im Februar 2021 zog sie ein. Ihr Haus in Norddeutschland behielt sie, hat es heute noch. „Mit der Hitze auf der Insel komme ich nicht so gut klar. Auch deswegen bin ich immer von Juni bis August in Deutschland“, so Lützelberger-Noetzel, deren ältere Tochter Sue weiterhin in Deutschland lebt. Schon durch die gemeinsame Arbeit für die Modemarke der Familie stünden die Schwestern und ihre Mutter in engem Kontakt.

Julia H. hat sich in Ariany mittlerweile gut integriert. Simone Werner

Dass einen als Eltern das schlechte Gewissen gegenüber zurückgebliebenen Söhnen oder Töchtern plagen kann, weiß Petra Wedemeyer genau. „Meine in Deutschland lebende Tochter trägt uns die Auswanderung heute noch nach, auch wenn sie oft auf Mallorca zu Besuch ist“, erzählt sie. Obwohl sich Mutter und Tochter ausgesprochen hätten, kämen immer hin und wieder subtile Kommentare à la „Ihr meldet euch ja gar nicht mehr“ oder „Der Abstand wird ja immer größer“.

Das richtige Maß an Kontakt

Da ist schon etwas dran: Deutlich mehr mitbekommen die Wedemeyers seit ihrer Auswanderung vor 15 Jahren von ihrem Sohn Steff Jerkel. Egal ob bei der Eröffnung der Lokale der Auswanderer oder der Familienplanung: „Klappt es oder nicht? Man hat mitgefiebert, jedes Ereignis hautnah miterlebt, war immer mittendrin“, erinnert sich Horst Wedemeyer. Als Jerkel und Peggy den Wedemeyers mitteilen wollten, dass sie Nachwuchs erwarten, konnten sie sie spontan zum Kaffee einladen. „Vor allem gegen Ende der Schwangerschaft hin standen wir dann immer auf Abruf bereit“, erzählt Horst Wedemeyer. Im März 2018 wurde dann ihre Enkelin Josephine geboren. Ihre Großeltern bekamen alles mit: ihre ersten Schritte, Worte …

Etwa zweimal pro Woche ist die Kleine mittlerweile bei ihnen – „mit Vollverpflegung versteht sich“, witzelt Horst Wedemeyer. „Josephine ist unser Ein und Alles“, schwärmt der 83-Jährige. „Es hält frisch, wenn man so viel vom Enkelkind mitbekommt. Man lebt noch einmal richtig auf“, stimmt ihm auch Petra Wedemeyer zu. Vom aktuellen Wohnort der Wedemeyers, Capdepera, ist es nur gut eine halbe Stunde zu Fuß bis zu den Lokalen von Peggy Jerofke („Tiki Beach“), ihres Sohns („Sharky’s“) sowie deren beider Häuser in Cala Ratjada.

"Will mich nicht verplanen lassen"

Ähnlich nah an ihrer Tochter wohnt nach einem Umzug auch Helga Lützelberger-Noetzel. Vanessa hat mit ihrer Familie mittlerweile ein Haus in Torrenova bezogen, sie eine Wohnung in der Party-Zone Punta Ballena in Magaluf. Etwa drei- bis viermal pro Woche sieht sich die Familie. „Vanessa wollte anfangs einen festen Zeitplan festlegen, doch ich will mich nicht verplanen lassen“, stellt die 74-Jährige klar. Manchmal habe sie das Gefühl, dass ihr Einsatz als selbstverständlich hingenommen werde und müsste „Stopp“ sagen. Direkt nach ihrer Auswanderung war es ihre Tochter Vanessa, die sagte dass sie bei den Treffen mit Freundinnen nicht immer ihre Mutter im Schlepptau haben will. Das richtige Maß an Kontakt mussten Mutter und Tochter erst finden.

Am weitesten von ihrer Tochter weg wohnen Julia H. und ihr Partner. „Früher waren es über 2.000 Kilometer, nun 50. In einer Dreiviertelstunde sind wir bei ihr“, sagt sie gelassen. Ihr Enkel hätte gern, dass Oma und Opa direkt neben ihm wohnen. „Das ist mir zu nah. Meine Tochter hat ihr eigenes Leben. Ich möchte nicht plötzlich in Verpflichtung sein. Das war ich mein Leben lang als alleinerziehende Mutter“, so Julia H.

Auch negative Erlebnisse

Letztlich bekommt man auch die negativen Ereignisse aus nächster Nähe mit. „Opa, Papa hat Mama gar nicht mehr lieb.“ Als Enkelin Josephine bei einem Besuch bei ihren Großeltern diesen Satz zu Horst Wedemeyer sagte, seien ihm direkt die Tränen in die Augen geschossen. Er ahnte bereits, dass es in der Beziehung zwischen seinem Stiefsohn Steff Jerkel und Peggy Jerofke kriselte.

Petra und Horst Wedemeyer mit Schwiegertochter Peggy Jerofke vor ihrer Bar Tiki Beach. Nele Bendgens

Einen Tag später gestand Jerkel seinen (Stief-)Eltern dann: Peggy und er haben sich nach über 24 Jahren Beziehung getrennt. „Es stimmt uns sehr traurig“, gibt Petra Wedemeyer zu. Parallel begannen die Sorgen um Josephine: Auch wenn der Zusammenhalt der Familie sich nicht verändert habe und alle nach wie vor zusammen Familienfeste feiern: „Wir haben Angst, dass sich die Trennung negativ auf sie auswirkt“, gestehen die Senioren.

Mallorca für immer?

Bezüglich ihres Wohnsitzes ändere die neue Situation aber nichts. Durch die vielen gemeinsamen Jahre auf Mallorca sei das Paar hier sesshaft geworden. Die in Deutschland lebende Tochter von Petra Wedemeyer, die sie nur etwa einmal pro Jahr sehen, sorgt sich jedoch um die langfristige Zukunft des Paares. „Sie hat uns geraten, eine Seniorenresidenz in Norddeutschland anzuschauen“, erzählt die 78-Jährige. Doch davon wollen die Wedemeyers erst einmal nichts wissen.

Auch Helga Lützelberger-Noetzel und Julia H. sind offen bezüglich des Ortes, an dem sie auf lange Sicht gesehen leben werden. „Selbst Vanessa weiß noch nicht, wie lange sie auf Mallorca bleiben wird. Ich glaube, das ist so ein Familiending bei uns“, scherzt Lützelberger-Noetzel. Würde Vanessa zurück nach Deutschland ziehen, würde ihre Mutter „sofort mitgehen“. „Meine Wohnung auf Mallorca würde ich aber definitiv behalten“, sagt sie und strahlt.

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