Mallorca Zeitung

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"Das Unerwartete begrüßen": Warum Ex-Sternekoch Jens F. Kruse heute Menschen auf den Straßen von Mallorca fotografiert

Kreative Menschen wechseln zuweilen ihre Ausdrucksform. Jens F. Kruse ist dafür ein Paradebeispiel: Der Privatkoch widmet sich seit 2021 mit hohem Anspruch professionell der Fotografie auf der Straße. Und der "Jäger und Fischer" mit der Kamera gibt sein Wissen in Workshops weiter

Das Auge des Betrachters wird virtuos gelenkt: Bei seiner Foto-Serie „Fragments of Time“ kombiniert Jens F. Kruse jeweils zwei Situationen, die sich gegenseitig beflügeln, zu einem Diptychon. Jens F. Kruse

Rastlos wirkt dieser Mann ganz und gar nicht, obwohl er täglich mit dem Fotoapparat auf Streifzug geht – vielmehr tiefenentspannt, in sich ruhend. Wäre da nicht der wache, neugierige Blick und dieser Eindruck, dass hier im Inneren ein gut geschürtes Feuer knistert, das ihn ständig antreibt. Jens F. Kruse brannte viele Jahre für seinen Beruf als Sternekoch. Der 1961 in Iserlohn geborene Wahlmallorquiner lebt seit 1999 auf der Insel und machte sich seit 2009 als leidenschaftlicher Privatkoch einen Namen. Doch inzwischen hat er Kochlöffel und Pfannenwender gegen Fuji und Lumix eingetauscht.

Ich hatte keine Lust mehr“, erklärt Kruse beim MZ-Gespräch unverblümt. Im Grunde habe er schon länger mit dem Gedanken gespielt, nach mehr als 40 Jahren in der Gastronomie als Koch aufzuhören. Doch das Geschäft lief gut, die Auftragsbücher waren voll, er schob den Schritt immer wieder auf. Dann kam Corona, und Kruse durfte nicht mehr arbeiten. „Diese Krise habe ich als Chance genutzt“, sagt er. Der Ruhestand kam noch nicht infrage. So beschloss er 2021, beruflich konsequent auf eine Passion zu setzen, der er bereits seit einigen Jahren nachging: der Straßenfotografie.

In Schweden hat es klick gemacht

Die Fotografie an sich war freilich nichts Neues in Kruses Leben, der auch Kunst und Musik auf Lehramt studiert und schon jahrelang einen Fotoblog betrieben hatte. Nur hätten ihn fremde Menschen auf den Bildern ursprünglich nicht interessiert, sie waren zunächst nicht mehr als ein unerwünschter Störfaktor.

Hat den Blick für bildwürdige Situationen: Jens F. Kruse, der seit 1999 auf Mallorca lebt. Nele Bendgens

Geändert hat sich das durch ein Erlebnis Ende 2017 in Stockholm, wo es klick machte: Es war 8 Uhr morgens und hatte geregnet, aus Fotografen-Sicht ergab sich dadurch eine reizvolle Winter-Stimmung voller Kontraste. „Auf einmal kommt da jemand um die Ecke, als ob er bestellt worden wäre. Als ob ein Film abläuft. Action!“, erinnert sich Kruse. In den drei Sekunden, als dieser „tolle Typ“ – groß, langer Mantel, geschmeidige Bewegungen – an ihm vorbeiging, bekam Kruse Herzrasen, er drückte schnell auf den Auslöser. Und stellte fest, dass sein zufälliger Protagonist Tiefe und Perspektive, eine Geschichte in das Bild gebracht hatte.

Es sei zwar nicht sein bestes Foto gewesen, sagt Kruse, aber sein wichtigstes. Zu diesem Zeitpunkt sei ihm noch nicht klar gewesen, welche Welt er da betreten hatte. „Ich wusste nicht, dass es für Straßenfotografie einen Namen gibt und dass es eine Kunst ist“, sagt er. Das sollte sich aber schnell ändern. Kruse tauchte „mit viel Herzblut“, wie er sagt, immer tiefer in das Thema ein und erweiterte sein Wissen.

Der Moment, den man nicht vorhersehen kann

Inzwischen lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass der Fotograf seine Kunst meisterhaft beherrscht. Zahlreiche vordere Platzierungen bei internationalen Wettbewerben sprechen für sich. „Was mir an der Straßenfotografie am meisten gefällt, ist die Freiheit zu gehen, wohin ich will, und der Moment, den man nicht vorhersehen kann: Man muss ständig darauf achten – bereit, das Unerwartete freudig zu begrüßen“, erklärt Kruse. „Ich liebe es, wenn an einem super belebten Ort alles perfekt zusammenpasst, aber nur für einen Moment. Danach kehrt das Chaos zurück an seinen Platz.“

Meistens ist der Fotograf als „Jäger“ unterwegs, wie er erklärt. Das heißt, er streift mit geschärften Sinnen durch seinen Wohnort Felanitx, durch Palma oder auch durch andere europäische Städte – Sevilla und London stehen aktuell auf seiner Wunschliste – und erfasst spontan Szenen. Manchmal lauert Kruse aber auch als „Fischer“ darauf, dass sich eine Bild-Situation mit dem richtigen Schattenwurf und interessanten Menschen genau so ergibt, wie er sie vor seinem geistigen Auge gesehen hat.

Eine Verbindung zu den Menschen aufbauen

Das A und O, ob Jäger oder Fischer: Ein Straßenfotograf darf nicht distanziert beobachten, sondern muss selbst in den Fluss des Lebens eintauchen, mitschwimmen und eine emotionale Verbindung zu den Menschen aufbauen, und sei es auch nur für einen kurzen Moment.

Von 100 Bildern seien 95 nicht zu gebrauchen, sagt Kruse. Wer einen Eindruck davon gewinnen möchte, wie die Werke aussehen, die dem Anspruch des Fotografen genügt haben, kann sich auf seiner Website durch mehrere originelle Serien klicken. Zum Beispiel „Fragments of Time“, die Surrealismus im Alltag einfängt und neue visuelle Räume eröffnet. Oder die wunderbare Serie „Gespräche mit Gott“, in der ganz unterschiedliche Bilder versammelt sind. Sie gewinnen durch diesen Kontext eine erfrischende Bedeutungsebene hinzu.

Aus der Serie "Fragments of Time". Jens F. Kruse

Die Straße lesen lernen

Kruse kann von seiner Fotografie leben – auch deshalb, weil er mehrgleisig fährt: mit seiner künstlerisch anspruchsvollen Straßenfotografie, mit ungestellten Mitarbeiter-Fotos im „Street-Photo-Style“ für Unternehmen und mit individuellen 1:1-Workshops für alle Niveaus, die seine Haupteinnahmequelle darstellen. Sie fänden fast ausschließlich in Palma statt und böten sich auch für Urlauber an, sagt Kruse.

In der Regel dauert ein solches Privat-Coaching mit dem Fotografen zweieinhalb Tage, bestehend aus zwei Mal fünf Stunden plus Nachbearbeitung, und kostet dann 490 Euro. Kruse, dem das Unterrichten schon immer viel Freude gemacht hat, unterstützt die Teilnehmer dabei, ihr Potenzial zu entfalten und ihre eigene Bildsprache zu entwickeln. Welche Kamera man benutzt, sei dabei eher unwichtig. „Es geht um viel, viel mehr, als nur darum zu fotografieren“, sagt er. „Es geht um das Fühlen, um die Wahrnehmung und darum, im Moment zu sein“, sagt er. Eine Fähigkeit, die vielen Menschen heute abgegangen sei.

Wer nicht gleich einen ganzen Workshop mitmachen möchte, kann auch eine „Entdeckung“ mit Kruse über die Plattform Airbnb buchen. Einen Vormittag lang zieht man von 9.30 Uhr bis 13.30 Uhr mit dem Profi los und erfährt viel über das richtige Mindset, Storytelling und die Bildkomposition, wenn man „die Straße lesen“ möchte. MZ-Leser können sich außerdem auf Inspiration in den kommenden Ausgaben freuen: In einer Serie wird Jens F. Kruse dann einige Tipps und Tricks rund um die Kunst der Straßenfotografie verraten.

Fotogalerien und Infos zur Workshop-Anmeldung unter: jfkstreetphotography.com. „Entdeckungen“ buchen Sie direkt auf Airbnb.

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